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"Ein dauerhafter Frieden ist nur mit Hamas an Bord möglich" / 'Lasting Peace Only Possible with Hamas On Board'

24 ehemalige Spitzenpolitiker aus verschiedenen Ländern wenden sich mit einem Offenen Brief an EU und USA / Kein Deutscher dabei

24 ehemalige Regierungschefs, Außenminister und andere Spitzenpolitiker haben sich in einem "Offenen Brief" für ein Ende des Boykotts der im Gaza-Streifen regierenden Hamas ausgesprochen. "Ein dauerhafter Frieden mit Israel ist ohne die Unterstützung durch die Hamas nicht möglich", heißt es in dem Dokument, das am 10. Juni2011 bei "Spiegel Online" auf Deutsch veröffentlicht wurde. Die USA und die Europäische Union werden in dem Brief dringend aufgefordert, ihren Kurs in der Nahost-Politik zu ändern.

"Wir als ehemalige Ministerpräsidenten, Außenminister und Friedensvermittler haben aus erster Hand gelernt, dass die Sicherung dauerhaften Friedens nur unter Einbeziehung aller Konfliktparteien möglich ist", schreiben die prominenten Ex-Politiker. Die Überwindung der politischen und institutionellen Spaltung zwischen dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen sei eine wesentliche Voraussetzung für die Bildung eines geeinten und lebensfähigen palästinensischen Staates. Die USA und die EU sollten deshalb mit einer neuen Regierung der nationalen Einheit einen konstruktiven Dialog führen.

Zu den Unterzeichnern gehören unter anderen der ehemalige Ministerpräsident der Niederlande, Dries van Agt, der frühere israelische Außenminister Schlomo Ben-Ami sowie der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine. Dass keine deutscher Politiker in der Liste auftaucht, kann verschiedene Gründe haben. Entweder kam die Liste zufällig zustande, oder die Initiatoren haben keinen deutschen Ex-Politiker von Rang und Namen gefunden, der diese Positionen mittragen würde. Angesichts der deutschen "Staatsräson", unter allen Umständen mit Israel solidarisch zu sein, der sich deutsche Politiker der etablierten Parteien zu aller Zeit verpflichtet fühlen, ist das wohl auch kein Wunder. Gerade erst hat Außenminister Westerwelle bei seinem Besuch in Israel betont, dass die Anerkennung des Staates Palästina eine "sehr gefährliche Sackgasse" sei.

Die beiden größten Palästinenserorganisationen, die im Westjordanland herrschende Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und die Hamas, haben sich auf Vermittlung Ägyptens vor einem Monat dazu entschlossen, nach Jahren offener Feindschaft eine neue Regierung der nationalen Einheit bilden zu wollen. Dieser Regierung sollten jedoch keine Parteimitglieder, sondern unabhängige Experten angehören. Die Regierung wird auch keine Friedensverhandlungen mit Israel führen, sondern das tägliche Leben der Palästinenser organisieren und Wahlen für Mai 2012 vorbereiten.

Israel hat mehrfach betont, die Einigung der Palästinenser nicht zu akzeptieren und auch keine Verhandlungen zu führen, wenn Hamas dabei ist. Der neuen Einheitsregierung droht möglicherweise aber auch ein Boykott durch westliche Staaten, welche die Hamas als "Terrororganisation" behandeln.

Wir dokumentieren im Folgenden den Offenen Brief in einer deutschen und englischen Version. Beide sind bereits an verschiedenen Stellen im Internet verfügbar.

D O K U M E N T I E R T

"Frieden mit Israel ohne Unterstützung durch Hamas nicht möglich"

Offener Brief ehemaliger EU-PolitikerInnen zur Nahost-Politik, 10.6.2011

Die Verhandlungen zwischen den beiden wichtigsten palästinensischen Gruppierungen Fatah und Hamas werden aller Voraussicht nach zur Bildung einer neuen palästinensischen Einheitsregierung führen. Die neue Übergangsregierung, die sich aus unabhängigen Politikern zusammensetzt, wird beauftragt werden, den Weg für die Abhaltung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2012 zu ebnen.

Die palästinensische Aussöhnung ist Teil des großen Wandels im Nahen Osten. Die Aussöhnung wurde von Ägypten nach ihrer eigenen Revolution vermittelt und zeigt, dass es ein starkes öffentliches Bedürfnis gibt, die Spaltung der letzten vier Jahre zu überwinden. Die Einheit der Palästinenser ist ein Ergebnis des arabischen Frühlings.

Wir, als ehemalige Ministerpräsidenten, Außenminister und Friedensvermittler haben aus erster Hand gelernt, dass die Sicherung dauerhaften Friedens nur unter Einbeziehung aller Konfliktparteien möglich ist. Wir halten es für äußerst wichtig, dass die internationale Gemeinschaft die palästinensische Einheit unterstützt und alle Schritte vermeidet, die den fragilen Versöhnungsprozess gefährden könnten. Wir fordern insbesondere die Vereinigten Staaten und die Europäische Union auf, mit der Übergangsregierung sowie mit der zukünftigen, im kommenden Jahr zu wählenden, palästinensischen Regierung einen konstruktiven Dialog zu führen. Aus folgenden Gründen ist dies von zwingender Notwendigkeit:
  • Es ist zum einen evident, dass die Überwindung der politischen und institutionellen Spaltung zwischen Westjordanland und Gaza Voraussetzung für die Bildung eines geeinigten und lebensfähigen palästinensischen Staats ist.
  • Zum anderen kann ein dauerhaftes Friedensabkommen mit Israel nur dann erreicht werden, wenn die palästinensische Führung den Frieden mit Israel im Namen aller Palästinenser und mit Zustimmung der wichtigsten politischen Kräfte aushandelt. Die palästinensische Aussöhnung steht der Verwirklichung einer Zwei-Staaten-Lösung also nicht im Wege, sondern ist - ganz im Gegenteil - deren Grundvoraussetzung. Es ist falsch, die Fatah vor die Wahl zu stellen, entweder mit der Hamas oder Israel Frieden zu schließen: Ein dauerhafter Frieden mit Israel ist ohne Unterstützung durch die Hamas nicht möglich.
Die palästinensische Wiedervereinigung birgt die Chance, einen Waffenstillstand auszuhandeln, erneute Angriffe gegen israelische Zivilisten aus dem Gaza-Streifen zu verhindern und somit die Sicherheit Israels zu fördern. Auch der Austausch palästinensischer Gefangener für den entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit scheint vor dem Hintergrund des Versöhnungsabkommens möglich.

Das Einheitsabkommen bietet Möglichkeiten, die genutzt werden müssen, ohne Fehler aus der Vergangenheit zu wiederholen. Nach dem Wahlsieg der Hamas im Jahr 2006 verhängten die Vereinigten Staaten und die Europäische Union einen finanziellen und politischen Boykott gegen die palästinensische Regierung. Im Nachhinein erwies sich dieser Schritt als schwerer Rückschlag für den Friedensprozess, denn er verschärfte die innerpalästinensische Spaltung und führte zu einer Verfestigung der Blockade Gazas.

Das neue Einheitsabkommen und die Entwicklungen in der gesamten Region bieten die Chance einer Kurskorrektur US-amerikanischer und europäischer Nahost-Politik. Die sogenannten "Quartett-Kriterien", einschließlich der Anerkennung des Existenzrechts Israels, sollten Ziele und nicht Voraussetzungen für einen Dialog mit der palästinensischen Führung und palästinensischen Gruppierungen sein. Die Einhaltung eines Waffenstillstands und der Verzicht auf Gewalt sind eine realistische Grundlage für die Aufnahme von Verhandlungen.

Die Unterstützung einer palästinensischen Einheitsregierung zu diesem wichtigen Zeitpunkt wäre für die USA und die EU eine gute Gelegenheit, ihr Engagement für eine Zwei-Staaten-Lösung, sowie für die Demokratiebestrebungen im gesamten Nahen und Mittleren Osten unter Beweis zu stellen.

Eine Alternative ist schwer vorstellbar. Wenn die palästinensische Aussöhnung untergraben wird, wird der israelisch-palästinensische Konflikt noch auswegloser werden, mit dramatischen Folgen für alle Beteiligten und für die gesamte internationale Gemeinschaft.

LISTE DER UNTERZEICHNENDEN
  • Dries van Agt: ehemaliger Ministerpräsident, Niederlande
  • Lord John Alderdice: ehemaliger Sprecher des Nordirischen Parlaments
  • Massimo d'Alema: ehemaliger Ministerpräsident, Italien
  • Frans Andriessen: ehemaliger Finanzminister, Niederlande; ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission
  • Halldór Ásgrímsson: ehemaliger Ministerpräsident, Island;
  • Generalsekretär des Nordeuropäischen Ministerrats
  • Hanan Ashrawi: Sprecherin der palästinensischen Delegation bei den Nahost Friedensverhandlungen
  • Shlomo Ben-Ami: ehemaliger Außenminister, Israel
  • Betty Bigombe: Ugandische Politikerin, ehemalige Vorsitzende der Verhandlungen zwischen der LRA und der ugandischen Regierung
  • Laurens Jan Brinkhorst: ehemaliger Vizeministerpräsident der Niederlande
  • Hans van den Broek: ehemaliger Außenminister der Niederlande; ehemaliger EU Kommissar für Auswärtige Beziehungen
  • Uffe Ellemann-Jensen: ehemaliger Außenminister, Dänemark
  • Gareth Evans: ehemaliger Außenminister, Australien
  • Sir Jeremy Greenstock: ehemaliger britischer Botschafter für die Vereinten Nationen
  • Lena Hjelm-Wallén: ehemalige Außenministerin und Vizeministerpräsidentin, Schweden
  • Ioannis Kasoulides: ehemaliger Außenminister, Zypern
  • Mogens Lykketoft: ehemaliger Außenminister, Dänemark
  • Ram Manikkalingham: Ehemaliger Berater für den Präsidenten Sri Lankas für den Friedensprozess mit den Tamil Tigers
  • Louis Michel: ehemaliger Außenminister, Belgien; ehemaliger EU Kommissar für Entwicklung und Humanitäre Hilfe
  • Poul Nyrup Rassmussen: ehemaliger Ministerpräsident, Dänemark
  • Elisabeth Rehn: ehemalige Verteidigungsministerin, Finnland; ehemalige Uno-Untergeneralsekretärin
  • Alvaro de Soto: ehemaliger Uno-Sondergesandter für den Nahost-Friedensprozess
  • Thorvald Stoltenberg: ehemaliger Verteidigungsminister und Außenminister, Norwegen; ehemaliger Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
  • Erkki Tuomioja: ehemaliger Außenminister, Finnland
  • Hubert Védrine: ehemaliger Außenminister, Frankreich
Quelle: Website der "Blätter für deutsche und internationale Politik"; www.blaetter.de


'Lasting Peace Only Possible with Hamas On Board'

Open Letter on Middle East Policy

Palestinian Unity Is a Prerequisite for Peace with Israel

A new Palestinian government is expected to be formed soon as a result of the agreement recently signed between the main Palestinian factions -- Fatah and Hamas. The new, transitional government composed of independent figures will be tasked to pave the way for the holding of parliamentary and presidential elections in May 2012.

Palestinian reconciliation is part of the momentous changes sweeping through the Middle East. Brokered by Egypt following its own revolution and reflecting a strong public desire to overcome the four-year long internal rift, Palestinian unity is a fruit of the "Arab Spring."

As former international leaders and peace negotiators, we have learnt first-hand that achieving a durable peace requires an inclusive approach. We consider it of vital importance that the international community supports Palestinian unity and avoids any steps that could jeopardise the fragile reconciliation process. In particular, we urge the United States and the European Union to constructively engage with the transitional government as well as with the Palestinian leadership that results from the elections next year. This is imperative for the following reasons:
  • Firstly, overcoming the political and institutional divide between the West Bank and Gaza is an obvious pre-condition for the establishment of a unified and viable Palestinian state.
  • Secondly, a durable settlement with Israel can only be achieved if the Palestinian leadership is able to negotiate on behalf of all Palestinians and with the agreement of main political forces. Reconciliation is thus a prerequisite for achieving the two-state solution. It is not an obstacle to it. Asking Fatah to choose between making peace with Hamas and making peace with Israel presents a false choice: a lasting peace with Israel is only possible if Hamas is on board.
Palestinian reconciliation is also an opportunity to enhance Israel's security. The unity deal could help consolidate a ceasefire, preventing renewed attacks from the Gaza Strip against Israeli civilians. An exchange of Palestinian prisoners for the captured Israeli soldier Gilad Shalit could be another positive off-shoot of the agreement.

The opportunity presented by the unity deal must be seized without repeating past mistakes. In 2006, following the victory of Hamas in the Palestinian election, the US and the EU opted for political and financial boycott. In hindsight, those policies were a major setback for the peace process by exacerbating Palestinian divisions and entrenching the blockade of Gaza.

The new unity deal and the developments in the wider region offer a chance for course correction by the US and the EU. The so-called Quartet principles including recognition of Israel should be treated as goals rather than preconditions of engagement with the Palestinian leadership and factions. Adherence to a ceasefire and non-violence is a realistic threshold from which to commence negotiations.

By supporting Palestinian unity at this vital juncture, the US and the EU have an opportunity to show their commitment to the two-state solution as well as to the democratic aspirations currently being voiced throughout the broader Middle East. The alternative is hard to contemplate. If Palestinian reconciliation is undermined, it will throw the Israeli-Palestinian conflict into an even deeper impasse, with dramatic consequences for all parties and the international community at large.

LIST OF SIGNATORIES
  • Dries van Agt: Former Prime Minister, the Netherlands
  • Lord John Alderdice: Former Speaker of the Northern Ireland Assembly
  • Massimo d'Alema: Former Prime Minister, Italy
  • Frans Andriessen: Former Finance Minister, the Netherlands; former Vice-President of the European Commission
  • Halldór Ásgrímsson: Former Prime Minister, Iceland; Secretary General of the Nordic Council of Ministers
  • Hanan Ashrawi: Former spokesperson of the Palestinian Delegation to the Middle East peace process
  • Shlomo Ben-Ami: Former Foreign Minister, Israel
  • Betty Bigombe: Ugandan politician, former chief LRA - Uganda government negotiator
  • Laurens Jan Brinkhorst: Former Vice-Prime Minister of the Netherlands
  • Hans van den Broek: Former Foreign Minister, the Netherlands; former EU Commissioner for External Relations
  • Uffe Ellemann-Jensen: Former Foreign Minister, Denmark
  • Gareth Evans: Former Foreign Minister, Australia
  • Sir Jeremy Greenstock: Former UK Ambassador to the United Nations
  • Lena Hjelm-Wallén: Former Foreign Minister and Deputy Prime Minister, Sweden
  • Ioannis Kasoulides: Former Foreign Minister, Cyprus
  • Mogens Lykketoft: Former Foreign Minister, Denmark
  • Ram Manikkalingham: Former Senior Advisor to the President of Sri Lanka on the peace process with the Tamil Tigers
  • Louis Michel: Former Foreign Minister, Belgium; former EU Commissioner for Development and Humanitarian Aid
  • Poul Nyrup Rassmussen: Former Prime Minister, Denmark
  • Elisabeth Rehn: Former Minister of Defense, Finland; former UN Under-Secretary General
  • Alvaro de Soto: Former UN Special Coordinator for the Middle East Peace Process
  • Thorvald Stoltenberg: Former Minister of Defense and of Foreign Affairs, Norway; former UN High Commissioner for Refugees
  • Erkki Tuomioja: Former Foreign Minister, Finland
  • Hubert Védrine: Former Foreign Minister, France
Source: www.middleeastmonitor.org.uk




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