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Stunde der Wahrheit

"Wo Fatahs Stern sank, stieg der Stern der Hamas" - Ein Kommentar zum Wahlausgang in Palästina

Von Norman Paech*

Nichts ist so radikal wie die Realität. Wer sich von der überwältigenden Entscheidung des palästinensischen Volkes für die Hamas schockiert zeigt, hat sich wohl allzu große Illusionen über die realen Lebensverhältnisse im kürzlich von den israelischen Siedlern verlassenen Gaza und den immer noch besetzten Gebieten der Westbank gemacht. Das liegt auch an der hiesigen Berichterstattung, die nur einen schwachen Abglanz der äußersten Brutalität und Perspektivlosigkeit der Lebensbedingungen wiedergegeben und ihn auch noch mit der milden Lasur permanenter Friedenshoffnung überzogen hat.

Nun ist alles zerbrochen und ein neuer Realismus gibt auch uns die Chance, die Situation nüchtern zu betrachten. Zweifellos haben Korruption, Unfähigkeit und innere Zerstrittenheit den enormen Vertrauensverlust der Fatah bis zu ihrer jetzigen Demontage vorangetrieben. Ihr Konkurrent, die Hamas, hat durch soziales Engagement an der Basis, Unabhängigkeit von der wenig überzeugenden Autonomiebehörde und vor allem durch Härte gegenüber der nicht minder harten Politik Scharons die Glaubwürdigkeit erringen können, die der Fatah verloren gegangen ist. Es war wie das System kommunizierender Röhren, wo Fatahs Stern sank, stieg der Stern der Hamas.

Doch war da noch ein Dritter im Bunde, dessen Einfluss auf diesen innerpalästinensischen Machtaustausch immer heruntergespielt wurde. Der alte Krieger – wie er sich selber nannte – Scharon hat nicht nur alles unternommen, Arafat als Führer der Fatah zu demontieren, sondern auch seinen Nachfolger Abbas. Er hatte von ihnen alles bekommen, was er nur bekommen konnte: die Anerkennung des Existenzrechts Israels, Verhandlungsbereitschaft und ein redliches, wenn auch ohnmächtiges Vorgehen gegen Selbstmordattentäter und Terroranschläge. Eine Gegenleistung oder Hilfestellung bekamen sie nicht. Der Rückzug aus Gaza war es auf jeden Fall nicht, denn keines der versprochenen Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Einwohner konnte in Angriff genommen werden. Ihre Existenz und ihre Perspektiven sind genauso elend wie vorher.

Scharon benutzte den Abzug, um seinen Griff auf die Westbank zu verschärfen. Die Mauer zum Schutz vor Terroranschlägen ist zugleich ein Instrument der Annexion und des Terrors gegen die betroffenen Einwohner. Der unverminderte Ausbau der Siedlungen verletzt nicht nur die Road Map, sondern zerstört jeden Ansatz einer Zwei-Staaten-Lösung.

Hamas an der Macht wird um eine Anerkennung Israels nicht herumkommen, allerdings nur um den Preis der Anerkennung eines souveränen Palästinas, den nun die Nachfolger Scharons zu erbringen haben. Das bedeutet Aufgabe nicht nur des Ausbaus, sondern der Siedlungen selbst sowie der Annexion Ost-Jerusalems. Diese Forderungen wird sich Hamas auch nicht durch Drohungen und Boykott seitens der USA oder der EU abhandeln lassen. Der jahrzehntelange Boykott der PLO hat zu nichts geführt. Nun werden sie alle miteinander reden müssen – auf gleicher Augenhöhe.

* Prof. Dr. Norman Paech ist außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Aus: Neues Deutschland, 31. Januar 2006



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