Ein Gespür für Menschlichkeit
Sari Nusseibeh plädiert für unkonventionelles Denken: Ein Staat für Juden und Muslime
Von Heinz-Dieter Winter *
Wegen der fortdauernden Weigerung Israels, die Besiedlung der palästinensischen Gebiete einzustellen, wird der völkerrechtlich begründeten Zwei-Staaten-Lösung immer mehr die Grundlage entzogen. Die Stimmen der Zweifler, Skeptiker und Ablehner dieser Lösung nehmen zu. Verstärkt melden sich jene zu Wort, die einen Staat favorisieren, in dem Juden und Palästinenser als gleichberechtigte Bürger zusammen leben. Zu jenen gehört der israelische Historiker Ilan Pappe. Doch scheint dieses Modell unrealistisch. Die Mehrheit der Israelis will den jüdischen Charakter ihres Staates bewahren, was Gleichberechtigung für die Araber ausschließe. Und die Mehrheit der Palästinenser will den eigenen Staat.
Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem und namhafter palästinensischer Philosoph, sucht einen Ausweg aus diesem »scheinbar nicht überwindbaren Status quo«, indem er ein »Gedankenexperiment« wagt, durch »unkonventionelles Denken Wege nach vorn« zu öffnen versucht. Er schlägt vor, dass Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser den so vergrößerten Staat Israel als jüdischen Staat akzeptieren und dafür im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht alle politischen Rechte erhalten. »Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational und es würde für das Wohl aller Araber in diesem Land gesorgt«, schreibt Nusseibeh. Den Palästinensern würden Menschenrechte und alle Leistungen gewährt, die ein Staat seinen Bürgern normalerweise zugesteht. Und so würde es ihnen, zwar ohne aktives und passives Wahlrecht, weitaus besser gehen als in den 40 Jahren Okkupation. Irgendwann in der Zukunft, so die utopisch anmutende Hoffnung Nusseibehs, könnte diese Regelung zu »ihrer eigenen Aufhebung« führen, weil möglicherweise die Menschen auf beiden Seiten nun die Zwei-Staaten-Lösung mit ihren notwendigen Kompromissen (eventuell auch als Konföderation) ernsthafter als bisher erwägen würden. Mit seinem Vorschlag verbindet der Autor die Vorstellung, dass Palästinenser und Israelis dann über Sinn und Zweck von Staaten nachdenken müssten - als Mittel »zur Steigerung des Wohlergehens der Menschen statt zur Erfüllung chauvinistischer oder religiöser Imperative«?
Von der jetzigen israelischen Regierung, der palästinensischen Autonomiebehörde sowie der Hamas-Führung erwartet der Autor indes kein Umdenken. Sein Appell richtet sich an die einfachen Menschen beiderseits der Fronten. Und er fragt: »Wenn sich Muslime und Juden gegenseitig wegen ihrer jeweiligen Werte umbringen, dann muss etwas mit diesen Werten nicht stimmen, und es ist allerhöchste Zeit, dass beide Gruppen zu einem Gespür für das Menschliche zurückfinden.«
Sari Nusseibeh: Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost. Verlag Antje Kunstmann, München 2012. 207 S., br., 17,95 €.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 22. November 2012
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