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Bewaffneter Raub

Erinnerungen an die »Nakba« und die Folgen: Neuer Band über die Entrechtung und Vertreibung der Palästinenser

Von Gerd Bedszent *

Die Vertreibung und sogar die Existenz einer indigenen palästinensischen Bevölkerung vor Beginn der zionistischen Landnahme wird von der israelischen Rechten immer noch geleugnet. Galt doch bei den zionistischen Gründungsvätern Palästina als ein »Land ohne Volk für ein Volk ohne Land«. Inzwischen ist freilich eine neue Generation israelischer Historiker herangewachsen, die die Gründungsmythen ihres Staates hinterfragte und nach Auswertung der Militärarchive die palästinensische Sicht auf die Ereignisse des Jahres 1948 weitgehend bestätigte.

Die Schweizer Journalistin und Nahostexpertin Marlène Schnieper schildert die Folgen der »Nakba«, der palästinensischen Katastrophe, aus Sicht von Betroffenen. Einer von ihnen ist Mohammed Hejab: Als Sohn einer Bauernfamilie in einem Flüchtlingslager im Westjordanland geboren, arbeitet er als schlecht bezahlter Gastarbeiter in Israel. Seine Familie stammte aus der ehemaligen Stadt Jaffa, heute ein Vorort Tel Avivs. Von dort stammen auch Hasan Hammami und Fadwa Hasna. Ihr Vater, ein reicher Kaufmann, brachte bei den Kämpfen des Jahres 1948 seine Familie in den Libanon in Sicherheit. In einem Flüchtlingslager im Westjordanland lebt der Bauer Mohammed Abd Al-Qader Harb. Sein Dorf wurde 1948 ausradiert. In den Jahren der Intifada wurden zwei seiner Söhne vom israelischen Militär erschossen, zwei weitere längere Zeit inhaftiert. Ahmed Yousef ist ein gemäßigter Hamas-Politiker im Gazastreifen. Auch er wuchs in einem Lager auf, stammt aus einer Familie wohlhabender Großgrundbesitzer, die 1948 vor den vorrückenden zionistischen Milizen floh. Ali Abu Shkheita und Nouri Al-Ukbi sind Angehörige eines Beduinenstammes, der sich 1948 mit dem neuen Staat arrangieren wollte. Seit Jahrzenten kämpfen sie um Rückgabe ihrer »vorübergehend« beschlagnahmten Ländereien. Der Universitätsdozent Sari Nusseibeh, Berater Yassir Arafats, stammt aus einem Adelsgeschlecht, das 1948 die Teilung Jerusalems in zwei Stadthälften erleben mußte.

Die Autorin untersetzt die von ihr wiedergegebenen Familiengeschichten mit umfänglichem Material zu den historischen Hintergründen der Ereignisse, zitiert israelische Militärs, Politiker und Historiker, widerlegt zahlreiche Mythen und Zwecklügen. So sei es von den zionistischen Urvätern von Beginn an beabsichtigt gewesen, einen rein jüdischen Staat zu errichten, dazu die nicht-jüdische Bevölkerung zu verdrängen und durch Einwanderer zu ersetzen. Die sozialdemokratisch orientierten Linkszionisten hätten sich dabei zwar in den Methoden, nicht aber in der erklärten Zielstellung von zionistischen Rechtsradikalen unterschieden.

Anfangs erwarben jüdische Siedlerorganisationen von osmanischen Würdenträgern Ländereien und verjagten die seit Generationen dort ansässigen arabischen Pächter. Dann in den 1920er Jahren wurden Palästinenser zielgerichtet diskriminiert, durften nicht auf jüdischen Ländereien arbeiten, jüdisch dominierten Gewerkschaften nicht beitreten, von Juden kein Land erwerben. In den 1930er Jahren eskalierte die Gewalt zwischen jüdischen und arabischen Nationalisten, wobei zionistische Rechtsradikale mit Terroranschlägen nicht nur gegen die britische Mandatsmacht, sondern auch gegen die arabischen Bürger vorgingen. Die Vertreibung des größten Teils der arabischen Bevölkerung in den Jahren 1948 und 1949 war dann schon generalstabsmäßig geplant: die Befehlshaber der zionistischen Truppen hatten genaue Weisungen, welche Dörfer sie dem Erdboden gleichzumachen und aus welchen sie »nur« die Bevölkerung zu vertreiben hatten. Diese Weisungen wurden umgesetzt, unabhängig davon, ob die Bevölkerung Widerstand leistete, flüchtete oder zwecks Unterwerfung die israelische Flagge hißte. Die planmäßige »ethnische Säuberung« war auch nicht kriegsbedingt, sondern längst im Gange, als die arabischen Nachbarn ihre Truppen gegen den neugegründeten Staat Israel schickten. Dem Krieg folgte die bürokratisch organisierte, systematische Enteignung der Vertriebenen: Ländereien, Häuser, Unternehmen und Bankguthaben wurden als »herrenlos« beschlagnahmt. Die Autorin zitiert den palästinensischen Intellektuellen Azmi Bishara, der die Nakba den »größten bewaffneten Raub des 20. Jahrhunderts« nennt.

Nachdem die israelischen Regierungen durch jahrzehntelange Duldung oder gar Forcierung des Siedlerprogrammes in den besetzten Gebieten die von der UNO seinerzeit beschlossene Zwei-Staaten-Lösung erfolgreich hintertrieben und letztlich verunmöglichten, setzen kompromißbereite Palästinener jetzt auf eine Ein-Staaten-Lösung, fordern in einem demokratisch verfaßten Staat gleiche Rechte für alle. Die Autorin zitiert abschließend den israelischen Hardliner Naftali Bennet. Um im Fall einer Ein-Staaten-Lösung die jüdische Bevölkerungsmajorität zu sichern, müsse man »notfalls auch mit Gewalt« noch ein bis zwei Millionen Juden nach Israel verbringen. Von der Nakba hat er angeblich noch nie etwas gehört.

Marlène Schnieper: Nakba – die offene Wunde: Die Vertreibung der Palästinenser 1948 und die Folgen. Rotpunktverlag, Zürich 2012, 380 Seiten, 28 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 20. August 2012


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