Drei Tote in Nablus
Was geschah genau am 26. Dezember 2009 im palästinensischen Westjordanland? Protokollierte Aussagen zu einer israelischen "Vergeltungsaktion"
Von Martin Lejeune *
Der Duft von frischem Gebäck und gegrilltem Fleisch weht durch die
kleinen Gassen der Altstadt von Nablus. Die Gemäuer der
palästinensischen Stadt, die der römische Kaiser Vespasian vor 2000
Jahren bauen ließ, sind mit den Bildern von drei Männern zugeklebt.
Ghassan Abu Sharakh, Anan Subh und Raed Suraji wurden am 26. Dezember
vergangenen Jahres nachts in ihren Wohnungen durch ein Killerkommando
vor den Augen ihrer Familien getötet. Soldaten der israelischen Armee,
Agenten des Inlandgeheimdienstes Schabak und palästinensische
Kollaborateure führten die Liquidierungen gemeinsam durch.
»Es war eine Antwort auf die Ermordung eines jüdischen Siedlers bei
Nablus zwei Tage zuvor«, erklärt Armeesprecher Arye Schalicar die
Ereignisse. »Diese drei Männer, allesamt bekannte Terroristen, waren an
Planung und Durchführung des Angriffs beteiligt.« Dieser fand am 24.
Dezember statt. Ein Auto mit israelischem Kennzeichen wurde zwischen den
jüdischen Siedlungen Einaw und Schawei Schomron im Westjordanland
beschossen. Eine der zehn Kugeln traf den Fahrer Meir Avschalom Hai im
Kopf. Israels Polizeisprecher Micky Rosenfeld machte palästinensische
»Terroristen« verantwortlich.
Die Straße wird ausschließlich von jüdischen »Siedlern« befahren - wie
die Besetzer palästinensischen Bodens gemeinhin genannt werden. Doch
sind sie tatsächlich so etwas wie Kolonialherren. Obwohl die Strecke
zwischen Einaw und Schawei Schomron im Westjordanland liegt und an
Nablus vorbeiführt, säumen sie ausschließlich Straßenschilder auf
Hebräisch, die Haltestellen werden von israelischen Busgesellschaften
wie »Egged« und »Dan« bedient. Die Route führt durch hügeliges Gebiet.
Von einer der Erhebungen aus fielen die Schüsse.
Meirs Bestattung
Meir ist nicht in Schawei Schomron begraben. Als »Opfer des Kampfes für
die Befreiung des gesamten Landes Israels«, so die Siedlerbewegung,
wurde er auf dem Olivenberg in Jerusalem bestattet. Eliahu, Meirs
16jähriger Sohn, hielt eine Trauerrede, an dessen Ende er appellierte:
»Ich bitte euch, meinen Vater nicht zu rächen. Zeigt, daß ihr anders
seid, daß ihr Böses nicht mit Bösem vergeltet.« Und Eliahu wandte sich
namentlich an die Anhänger der Noar HaGva'ot, einer Gruppe gewalttätiger
junger Siedler: »Bitte, mordet nicht im Namen meines Vaters.«
Das israelische Militär und der Geheimdienst Schabak blieben
unbeeindruckt davon. »Die Aktionen waren eine Antwort auf den Mord«,
wiederholt nun Hauptmann Schalicar, der Armeesprecher für internationale
Medien und Kontaktperson zum Büro der Generalstaatsanwaltschaft. Eine
»Vergeltungsmaßnahme« also - eine Tat außerhalb von Recht und jeglicher
Gesetzlichkeit. Soviel steht fest. Aber waren die drei Männer, die das
Ziel staatlicher Willkür wurden, wirklich an dem Anschlag beteiligt? Die
Angehörigen der Hinterbliebenen bestreiten dies.
In der Nähe der Nasr-Moschee liegt das Haus von Ghassan. Über der
Haustür weht die Fahne der Fatah, der Bewegung zur Befreiung Palästinas,
die im Westjordanland regiert. Ist man für die Israelis schon ein
Terrorist, wenn man Anhänger der Fatah ist? Avi Mizrahi, der Kommandeur
der israelischen Bodentruppe, sagt, der 38jährige Ghassan sei Mitglied
der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, des bewaffneten Arms der Fatah, und kurz
vor seiner Erschießung noch in israelischer Haft gewesen. Weswegen
Ghassan inhaftiert war, ist von Mizrahi nicht zu erfahren. Seine Familie
erläutert, er sei während einer friedlichen Demonstration gegen die
Besetzung verhaftet worden.
Ghassans Tod
Als um Mitternacht die Tür explodierte und das Mordkommando das Haus
stürmte, geschah dies auch vor den Augen von Ghassans Frau und den
Kindern. Um Naif, die Mutter des Getöteten, berichtet: »Als die Soldaten
das Gesicht von Ghassan sahen, fingen sie an, auf ihn zu schießen.
Ratatatata! Sie haben solange auf ihn geschossen, bis seine Brust und
sein Herz zerschmettert waren, und er auf dem Boden aufschlug. Sie haben
ihn ermordet, ohne seinen Ausweis gesehen zu haben.«
Der Schabak verließ sich auf die Angaben eines Spions, der Ghassan
identifizierte - ein Mann, der sein Gesicht hinter einer schwarzen Maske
verhüllt hatte und örtlichen Dialekt sprach. Ghassan war der Vater einer
fünfjährigen Tochter und dreier Jungen, der älteste zwölf, der jüngste
zwei Jahre alt. Er arbeitete seit 15 Jahren als Elektromechaniker und
reparierte Autos in einer Werkstatt im Zentrum von Nablus. Mit dem Mord
am Siedler oder gar den Aqsa-Märtyrer-Brigaden habe er nichts tun
gehabt, versichert Um Naif: »Wenn Ghassan etwas verbrochen hätte, und
auch die zwei anderen, wie Israel behauptet, dann hätten sie nicht in
ihren Betten geschlafen, sondern wären geflüchtet.«
Dem widerspricht Schalicar: »Terroristen gehen in ihrem zivilen Alltag
oft einem normalen Beruf nach. Wir würden niemals einen Menschen ohne
eine gewalttätige Vorgeschichte gezielt töten.« Ob im Hause von Ghassan
Waffen gefunden wurden, dazu äußert sich Schalicar nicht. »Ghassan hatte
keine Waffen«, beteuert Um Naif. »Er war ein friedlicher Mensch, betete
fünfmal am Tag und kam jeden Morgen zu mir und fragte mich: 'Brauchst Du
etwas?'« Seine vier Kinder trafen ihn jeden Abend um sechs Uhr zu Hause
an, wenn er aus der Werkstatt kam. Jetzt weinen sie jeden Abend Punkt sechs.
Nachdem Ghassan erschossen wurde, fragte Um Naif den Schützen: »Du hast
meinen Sohn ermordet! Hast Du keine Mutter?« Der Soldat richtete seine
Waffe auf sie. »In diesem Moment meinte ich zu ihm: Tötet uns doch alle.
Wenn ihr immer nur einzelne erschießt, ist es zu mühsam für euch. Stellt
uns alle an die Wand!« Dann zeigte Um Naif auf den Jüngsten der Familie:
»Das ist mein Enkelkind. Er mußte mit ansehen, wie ihr seinen Vater
erschossen habt. Was wird er machen, wenn er groß ist? Das erlebt zu
haben, zwingt ihn, euch später zu töten.« Sie schlugen zudem Um Naifs
Sohn Jamal. Er konnte sich nicht wehren, weil er gefesselt war.
Die Mutter berichtet weiter: »Sie führten uns aus dem Haus auf die
Straße. Ich rief: 'Nachbarn, Nachbarn, bestellt den Krankenwagen. Auf
Ghassan wurde geschossen.' Als um drei Uhr früh der Krankenwagen
eintraf, wurde der Rettungsarzt von den Soldaten ignoriert. Der
Sanitäter sagte zu ihnen: »Wir müssen den Verletzten mitnehmen.« Der
Soldat schubste ihn mit seiner Waffe zur Seite und antwortete: »Hau ab!«
Um Naif: »Jedes Mal, wenn ich ins Haus wollte, um zu sehen, ob Ghassan
noch lebt, bedrohte mich ein Soldat mit seiner Waffe und sagte zu mir:
'Da ist kein Sohn mehr'.«
Währenddessen fingen Soldaten an, die Einrichtung im Haus zu zerstören.
»Sie zerschnitten die Polster der Couch, rissen die Kleidung aus den
Schränken, zertrümmerten Möbel. Nichts blieb, wie es war. Es würde uns
auch nichts ausmachen, wenn das ganze Haus kaputtginge, wir würden auf
das Haus verzichten, wenn Ghassan am Leben bliebe.« Um fünf Uhr früh
trugen die Soldaten ihre Leitern weg, mit denen sie ins Haus
eingestiegen waren, nahmen ihren Hund mit und verschwanden, bevor es
hell wurde. Um Naif kam ins Haus zurück und erblickte Ghassan. »Er lag
auf dem Boden, er sah aus wie Naif damals.«
Naif, ihr ältester Sohn, wurde 2004 von Israelis erschossen, ebenfalls
an einem Samstag. »Ich verfluche den Samstag«, schreit Um Naif. »Der
Samstag hat mir zwei Söhne genommen.« Mizrahi zufolge war Naif in Nablus
der örtliche Anführer der »Organisation«, einem 1995 gegründeten
weiteren bewaffneten Arm der Fatah, und bis zu seiner Liquidierung für
»mehrere Terroranschläge« verantwortlich gewesen.
Um Naif, die neben drei Bildern ihres Sohnes Naif sitzt, bekommt Besuch
von ihrem jüngsten Sohn Nidal. Nidal: »Israel widerspricht sich selbst.
Es behauptet, daß Ghassan ein bewaffneter Kämpfer gewesen sei. Jemand,
der zwischen seinen Kindern und zusammen mit seiner Frau lebt, ist kein
bewaffneter Kämpfer.« Nidal fragt: »Wo bleiben die Menschenrechte? Wer
im Westen behauptet, daß es in Israel Menschenrechte gebe, der lügt,
denn hier werden die Väter ohne Gerichtsverfahren von den Israelis vor
den Augen ihrer Kinder ermordet.«
Raeds Tod
In derselben Nacht wurde Raed Suraji in seinem Haus erschossen. Mizrahi
zufolge war er ein Aktivist der »Organisation«. Zwischen April 2002 und
Januar 2009 saß Raed in einem israelischen Gefängnis. Der 40jährige habe
den Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden angehört und sei in »zahlreiche
Terrorattacken« involviert gewesen, hieß es. Auch habe Raed Sprengstoffe
in einem chemischen Labor hergestellt.
Erster Eindruck im Haus von Um Walid, der Witwe von Raed: Einschußlöcher
überall an den Wänden der Wohnung. Auch die Bilder von den Kindern sind
von Schüssen durchsiebt. Um Walids ältester Sohn, Walid, ist zehn, die
Tochter Zeina acht Jahre. Im Flur vor dem Schlafzimmer sitzt die Ehefrau
neben ihrer Mutter, Um Zuheir, auf weißen Plastikstühlen. Das Wohnzimmer
ist komplett zerstört. Die Polster zerstochen, Möbel zerschlagen. Auf Um
Walids Schoß liegt ein rosafarbiger Bademantel, den sie mit beiden
Händen festhält. Der Kragen des verschmutzten Bademantels berührt den
Boden. »Darauf ist Gehirnmasse meines Mannes gespritzt, als ihm die
Soldaten in den Kopf schossen.«
Sie lag zu diesem Zeitpunkt in ihrem rosa Bademantel neben ihrem Mann
Raed im Bett. Zehn Einschußlöcher weist der Spiegel an der Wand auf. Um
Walid erzählt: »Ich hörte in dieser Nacht eine Explosion und schreckte
auf. Soldaten stürmten unser Haus, andere kamen vom Dach und standen
plötzlich überall, richteten ihre Waffen auf das Schlafzimmer. Etwas
blinkte, und sie fingen an zu schießen. Mein Mann und ich waren im
Schlafzimmer gefangen. Ich flehte sie an: 'Schießt nicht mehr, wir gehen
raus.' Wir riefen: 'Hier sind Kinder im Haus, bitte nicht mehr
schießen.' Sie hörten nicht auf, schossen weiter auf uns. Sie trafen
Raeds Kopf, schossen auf seinen Körper. Einer der Soldaten stand direkt
vor ihm und hat noch einmal auf seinen Kopf geschossen. Danach fragte
der Schütze: 'Wie heißt er eigentlich?' Er nahm mich in das andere
Zimmer und fragte: 'Wo ist sein Ausweis?' Ich zeigte ihnen das Dokument.
Dann befahl der Soldat mir, meine Kinder herauszuholen, und fragte, wo
die Waffen meines Mannes seien. Ich antwortete: 'Ihr könnt die ganze
Wohnung durchsuchen. Mein Mann hat keine Waffen.' Dann fing er an, mein
kleines Kind zu fragen: 'Wo sind die Waffen deines Vaters?' Das Kind
antwortete: 'Mein Vater hat doch keine Waffen.' Dann fingen sie an,
alles zu durchsuchen, alles kaputtzumachen. Ich sagte: 'Wenn ihr
irgendwas findet, dann nehmt es doch.' Sie fanden nichts. Und nachdem
sie alles durchsucht hatten, habe ich sie gefragt: 'Warum habt ihr ihn
ermordet? Er war doch bei euch im Gefängnis. Warum gerade jetzt?' Dann
schaute mich einer der Soldaten an und sagte: 'Sorry.' Ich hoffe, daß
Gott sie bestrafen wird.«
Auch in diesem israelischen Kommando befanden sich maskierte Männer -
palästinensische Verräter. Sie wußten alles; wo die Familie wohnte, in
welchem Zimmer Raed schlief. Sie kannten das Haus sehr gut. Es besteht
aus mehreren Zimmern. »Nicht mal seine Freunde wußten, in welchem Raum
er schläft«, wundert sich Um Walid. Ohne palästinensische Kollaborateure
kann Israel eine derartige Aktion nicht durchführen.
Anans Tod
Der dritte Getötete in dieser Nacht ist Anan Subh, 36, der nach
israelischen Angaben an militanten Aktionen der »Organisation«
teilgenommen hat, die von Naif Abu Sharakh angeführt worden seien. Anan
sei Waffenhändler gewesen. Bei dem Versuch, ihn zu verhaften, sei es zu
einem Feuergefecht gekommen, während dem er erschossen wurde, nachdem er
von den Soldaten in seinem Versteck mit Waffen und Munition gefunden
worden sei.
Anans Bruder, Abdel Nasser, berichtet: »Sie kamen um drei Uhr nachts.
Fingen an, Bomben zu werfen. Sie befahlen uns, auf die Straße zu gehen.
Sie begannen, das Haus zu zerstören, nahmen Hunde mit. Sie haben nicht
gesagt, warum sie Anan haben wollen.« Die drei Männer, die sie
erschossen haben, hätten Kinder hinterlassen. »Wer soll diese jetzt
ernähren? Mit ihren Taten verstärken sie den Haß zwischen beiden
Seiten«, sagt Abdel und weist die Anschuldigungen, die Mizrahi gegen
seinen Bruder Anan erhob, entschieden zurück: »Das alles trifft nicht
zu. Israel rechtfertigt seine Verbrechen mit solchen Aussagen. Die
Medien manipulieren ihre Berichte, wenn sie nur die Lügen der
Armeesprecher weitergeben. Sie gestalten ihre Nachrichten so aus, daß
die Leute mehr Mitleid haben mit den Tätern als mit den Unterdrückten.«
Dann äußert der Bruder des Toten eine Bitte: »Veröffentlichen Sie jedes
Wort von uns. Es kommen viele Journalisten, die Mitleid zeigen. Aber was
dann später in den Zeitungen steht, ist nicht das, was sie bei uns
erfuhren. Ich bin davon überzeugt, daß die Leute im Ausland, wenn sie
alles wahrheitsgemäß berichtet bekommen, unser Leiden und unsere Lage
erkennen.«
Militärische Kontrolle
Die Liquidierungen verstoßen gegen das Oslo-Abkommen. Demnach sind die
besetzten Gebiete in drei Zonen aufgeteilt- und Nablus gehört zum
sogenannten A-Gebiet. »Dort dürfen gemäß dem Vertrag Israelis nicht
operieren, weil allein die Palästinenser für die Sicherheit
verantwortlich sind«, bewertet Abu Mugheisi, Sprecherin der
Generaldelegation Palästinas zu Berlin, das Vorgehen von Armee und
Geheimdienst. »Oslo hin, Oslo her«, meint Schalicar dazu. »Wir üben
sowieso die militärische Kontrolle über das ganze Land aus, vom Golan im
Norden bis Eilat im Süden. Außerdem führen wir unsere Militär- und
Geheimdienstoperationen im A-Gebiet in der Regel in Absprache mit der
Palästinensischen Autonomiebehörde aus.« Ob das Mordkommando in jener
Nacht auch den örtlichen Behörden angekündigt wurde, weiß Schalicar
nicht, sagt er. Doch letztlich ist das unerheblich. Die Realität ist
längst, daß nachts alle Straßen, auch die in den palästinensischen
Städten der A-Zone, israelischen Bewaffneten gehören.
Gezielte Tötungen von mutmaßlichen palästinensischen »Terroristen«
zählen - egal unter welcher Regierung - zu den üblichen
»Vergeltungsmaßnahmen« Israels. Trotzdem veranlaßte Avichai Mendelblit,
der Generalanwalt der israelischen Armee, in diesem Fall eine
Untersuchung durch die kriminaltechnische Abteilung des Militärs. Laut
Schalicar lagen Mendelblit seit Ende Mai die Ergebnisse der Untersuchung
vor. Der Autor dieses Reports fragte mehrfach in den vergangenen Wochen
nach, wie diese aussehen und welche Entscheidung Mendelblit nach
Inspektion des Materials getroffen hat. Doch Schalicar schweigt.
* Aus: junge Welt, 24. Juli 2010
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