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Mord an der Jugend

Am Montag wurde Juliano Mer-Khamis vor seinem Theater der Freiheit in Dschenin erschossen

Von Karin Leukefeld *

Ermordet – der Meister, Denker und revolutionäre Kämpfer Juliano Mer-Khamis, Generaldirektor des Theaters der Freiheit im Flüchtlingslager Dschenin«. In diese einfachen Worte ist die Schreckensmeldung auf der Internetseite des Theaters gefaßt. Juliano Mer-Khamis wurde erschossen, als er es am Montag (4. April) verließ und mit seinem Auto wegfahren wollte. Fünf Kugeln seien von maskierten Unbekannten auf ihn abgefeuert worden, heißt es im Polizeibericht, eine Beifahrerin wurde verletzt. Die Täter seien Palästinenser aus dem Flüchtlingslager, war in israelischen Medien zu lesen. Die Polizei in Dschenin spricht von einem Maskierten, der unerkannt entkommen konnte. Am 29. Mai wäre der Schauspieler und Regisseur 53 Jahre alt geworden.

Juliano Mer-Khamis’ Leben war vom Beispiel seiner Eltern geprägt, zwei entschiedenen Kämpfern gegen die israelische Besatzung. Sein Vater Saliba Khamis war christlicher Palästinenser und Sekretär der Kommunistischen Partei Israels. Seine Mutter Arna Mer, jüdische Menschenrechtsaktivistin, erhielt 1993 für ihre Arbeit im Flüchtlingslager Dschenin den Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award).

Juliano Mer-Khamis diente als junger Mann in einer Fallschirmspringertruppe der israelischen Armee, verweigerte sich aber konsequent jeder ideologischen, religiösen oder nationalen Indienstnahme. Dem israelischen Rundfunk sagte er 2009 in einem Interview: »Ich bin hundert Prozent Palästinenser und hundert Prozent Jude.« Sieben Jahre lebte er im Flüchtlingslager Dschenin, wo er 2006 zusammen mit Zakariya Zubeidi, einem früheren militärischen Führer der Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, das »Theater der Freiheit« gründete.

Die Gründung war auch eine Hommage an die Solidaritätsarbeit seiner Mutter Arna während der ersten Intifada (1987). Sie setzte diesem »Krieg der Steine« das »Theater der Steine« in Dschenin entgegen. Ein Haus für palästinensische Kinder und Jugendliche, die ihr lange mit tiefem Mißtrauen begegneten, das aus der israelischen Besatzung resultierte. Arna Mer kämpfte mit ihnen und den Mitteln der Kunst gegen Ängste, Traumatisierung und Depressionen. Sie glaubte an die Versöhnung zweier freier Völker. Ihr Theatergebäude wurde bei der israelischen Invasion 2002 zerstört. Juliano Mer-Khamis hat die Arbeit seiner Mutter in dem bewegenden Film »Arnas Kinder« dokumentiert.

Soviel Anerkennung diese Kulturarbeit in der westlichen Welt erfuhr, so verdächtig war sie vielen in Israel und den besetzten Gebieten. Die Stücke forderten sowohl die Besatzer als auch die Traditionalisten unter den Unterdrückten heraus. Oft wurde die Freizügigkeit kritisiert, mit der junge Frauen und Männer im Theater der Steine und später dem der Freiheit agierten. In der entwürdigenden Realität des Lagerlebens erfuhren sie persönliche Freiheit, trotz aller Repression der Besatzung entwickelten sie Kreativität und Selbstbewußtsein.

Wer Juliano Mer-Khamis in wessen Auftrag erschossen hat, ist unklar. Der Aktivist war eine vernehmbare Stimme gegen die Gewalt. Wer sie zum Schweigen gebracht hat, zielte ganz sicher auf die palästinensische Jugend, die heute nicht nur gegen die Besatzung, sondern auch gegen eine palästinensische Regierung aufbegehrt, die ihre Hoffnungen verraten hat.

Im Gedenken an Juliano Mer-Khamis zeigt die Schaubühne Berlin am Freitag (8. April) und Sonntag (10. April) nach den Vorstellungen des Stückes »Dritte Genera­tion« (eine Koproduktion mit jüdischen und palästinensischen Israelis vom Habima National Theatre) den Dokumentarfilm »Arnas Kinder«.

* Aus: junge Welt, 6. April 2011


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