Marathon gegen den Status quo
Israel, Westjordanland, Autonomie - ein Lauf und eine Autofahrt in "Palästina"
Von Max Böhnel, Tel Aviv *
In Bethlehem, einer der palästinensischen
Autonomiestädte, fand der erste
»nationale Marathon« statt. In
strömendem Regen absolvierten gut
400 Läufer und Läuferinnen die volle
Marathonstrecke, die Hälfte, zehn
oder fünf Kilometer. Ausdrücklich
wiesen die Organisatoren darauf hin,
dass ein Drittel der Teilnehmer Frauen
waren. Der Gewinner Abdel Nasser
Awadschneh aus Jericho erklärte gegenüber
»nd«, er widme seinen Sieg
»Yassir Arafat und dem palästinensischen
Volk«. Motto des Laufes war:
»Right to Movement«, zu übersetzen
vielleicht mit »das Recht, sich frei zu
bewegen«.
Immer wieder strömt der Regen.
Er rinnt ihnen über die Gesichter
und in die Kleidung. Doch er hält
die Läufer und Läuferinnen nicht
davon ab. Vom »Manger Square«,
wo die berühmte Bethlehemer Geburtskirche
steht, geht es hinunter
auf die Hauptstraße. Dass der Marathon
kein normales Sportereignis
ist, sondern ein Politikum und
ein historischer Lauf durch die
Geschichte, zeigt schon die Streckenführung:
Es geht an der
Trennmauer entlang, die nicht zu
unrecht auch Apartheidmauer genannt
wird, an Flüchtlingslagern
vorbei zum Dorf Al-Khader, das
ebenfalls an der bis zu acht Meter
hohen Trennmauer liegt. Dort
müssen die Läufer des Bethlehem-
Marathons umkehren und erneut
eine Schleife laufen. An keiner
Stelle in »Palästina« ist es möglich,
einen 42-Kilometer-Marathon zu
veranstalten, der nicht von Mauer,
Barrieren, Grenzen und Wachtürmen
unterbrochen würde.
Das Puzzle von Area A, Area B und Area C
Hunderte junger Männer säumen
den Straßenrand und feuern die
Läufer an. Ein Witz, der bei Kritikern
von Friedensverhandlungen
vor 20 Jahren die Runde machte,
scheint aktueller denn je: Wie viele
Gänge braucht ein palästinensischer
Autofahrer? Antwort: nur
einen Vorwärts- und einen Rückwärtsgang.
Die israelische Sichtweise ist
eine andere: Israel stehe mit Blick
auf eine Lösung des Palästinakonflikts
vor zwei Möglichkeiten, heißt
es. Entweder gestehe es den Palästinensern
nach der Räumung
eines Teils der Siedlungen einen
eigenen unabhängigen Staat zu
oder es bringe das Westjordanland
durch einen Annexionsbeschluss
unter seine volle Kontrolle und
fabriziere damit eine »Ein-Staat-
Lösung«. Beobachter meinen, die
meisten Israelis, inklusive ihrer
Politiker, tendierten rhetorisch zur
ersten Variante. Darin steht die
Trennung von den Palästinensern
im Vordergrund, um einen israelischen
Staat mit einer jüdischen
Bevölkerungsmehrheit zu bewahren.
Faktisch und praktisch aber
bewegt sich die israelische Politik
auf einen einzigen Staat zu. Davon
zeugt die Weigerung israelischer
Politiker, eine Grenzlinie zwischen
dem existierenden Staat Israel
einschließlich seiner Siedlungen
und dem nicht existierenden
Staatsgebilde Palästina anzugeben.
Aber Rhetorik und Tendenzen
beiseite – längst bietet sich eine
dritte Politikoption an. Sie lautet
Aufrechterhaltung des gegenwärtigen
Zustands, des Status quo. Die
Teilung des Westjordanlands in
drei rechtlich voneinander unterschiedene
Einheiten, wie in den
Osloer Verträgen von 1994 als
Übergangslösung vorgesehen,
würde damit zum Dauerzustand.
»Area A« ist eine Summe von
palästinensischen städtischen
Ballungsgebieten wie Ramallah,
Bethlehem, Nablus und Dschenin.
Dort verfügt die palästinensische
Regierung über Autonomie. In
»Area B« genießen die Palästinenser
begrenzte Autonomie,
während Israel dort für die Sicherheit
seiner eigenen Staatsbürger
verantwortlich ist.
»Area C« wiederum fällt gänzlich
unter israelische Kontrolle.
Eine Probe aufs Exempel: Die
Autovermietung in Tel Aviv gibt
jedem Kunden eine Landkarte mit.
Als Staatsgebiet zählen darauf
nicht nur Haifa, Tel Aviv, Eilat und
Jerusalem, sondern auch große
Teile des Westjordanlands. Zwar
weist eine schmale grüne Linie die
1967 besetzten Gebiete sowie
»Area A« und »Area B« aus. Aber
eine Grenze oder anderweitige
Regelungen, an die man sich als
unwissender Autofahrer halten
müsste, sind nicht vermerkt.
Gesichtskontrolle auf Israelisch
Ich will von Tel Aviv ins nördliche
Westjordanland fahren, laut Karte
zuerst auf der Autobahn, dann auf
der Landstraße 57 über die »grüne
Grenze« nach Tulkarem, von
dort Richtung Nablus, schließlich
auf der Landstraße 60 nach
Dschenin. Ob das gelbe Autokennzeichen
mit dem »IL« für Israel
ein Problem wird? Das wird
sich spätestens herausstellen,
wenn ich in »Palästina« für einen
israelischen Siedler gehalten werde.
Ein bärtiger Grenzsoldat mit
dunkler Sonnenbrille stoppt den
Wagen an der gut fünf Meter hohen
Trennmauer. Durch eine Öffnung
passen zwei Autos, in jeder
Richtung eines. Vor einer Steinbarrikade,
in der eine zerfledderte
israelische Fahne steckt, winkt er
mich nach kurzer Gesichtskontrolle
wortlos weiter. Jetzt bin ich
in den »Gebieten«.
Im Kriechtempo geht es, um
Straßenlöchern auszuweichen,
und an Müllbergen, Metalltrümmern
und einem traurigen Steinbruch
vorbei, ins Stadtzentrum
von Tulkarem. Palästinensische
Polizei am Ortsausgang winkt mich
durch. »Area A« ist zu Ende. Darauf
verweist eine israelische Fahne
neben der Straße. Die Kreuzung
vor Nablus hinauf ins hügelige
Dschenin – »Area B« – wird
von einer schwer bewaffneten israelischen
Einheit bewacht, Maschinenpistolen
und Sturmgewehre
entsichert, Tornister und
Stahlhelme am Mann.
Ich sehe aus wie ein Siedler – also ungefährlich
Als ich den Wagen verlangsame,
rechts anhalte und das Fenster
herunterkurbele, um nach dem
Weg zu fragen, starre ich in den
Lauf eines Sturmgewehrs, das der
Soldat aber sofort wieder senkt.
Nach Dschenin gehe es dort oben
nach links – und »Be careful!« –
»Seien Sie vorsichtig!« Offenbar
hat eine Gesichtskontrolle gereicht,
um mich als ungefährlich
einzustufen. Später werden Palästinenser
bestätigen: Ich sähe
aus »wie ein Siedler«, europäisch,
hochgewachsen, Sonnenbrille,
weiße Hautfarbe, »nicht arabisch«.
Auf den kommenden Kilometern
passiere ich einen Truppentransporter,
nur dürftig unter
Tarnnetz versteckt in einem Olivenhain,
und kurz nacheinander
vier Straßenkontrollen: jeweils ein
rotes Stoppzeichen, ein Nagelbrett
auf der Fahrbahn, mittelgroße Militärfahrzeuge
am Straßenrand.
Außerdem grenzt die Straße, die
ich jetzt Richtung nördliches
Westjordanland befahre, kilometerweit
an »Area B«, obwohl sie
großenteils als Korridor in
»Area A« fungiert. Gleichwohl ist
daran nichts zu erkennen, was die
Gegend als palästinensisches Autonomiegebiet
ausweisen würde.
Der Weg zurück ins »Kerngebiet
« Israels ist problemlos. Straßenschilder
weisen eine gut ausgebaute
Strecke aus. Es geht mit
90 Kilometern pro Stunde durchs
Westjordanland auf einer Straße,
die als Zufahrt zu den Siedlungen
gebaut wurde. An einem nach
amerikanischem Hightech aussehenden
Grenzübergang lacht mich
eine Soldatin an, als sie meinen
deutschen Ausweis sieht, und
winkt mich durch. Im Radio heißt
es »Autounfall auf Highway 1
nördlich von Tel Aviv«, in derselben
Meldung aber auch »Verkehrsstau
in Ariel«. Das ist eine
der größten illegalen Siedlungen
im Westjordanland. Es klingt ganz
normal, wie »Verkehrsstau in Israel«.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 25. April 2013
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