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Der Alptraum in Palästina geht weiter
The Nightmare Continues in Palestine

Die Generation, die "Joseph nicht kennt"
The generation that "doesn't know Joseph"

Im Folgenden dokumentieren wir einen desillusionierenden Bericht über die Lage, in der Kinder und Jugendliche in Palästina aufwachsen. Der Artikel erschien zuerst in der israelischen Tageszeitung Ha'aretz und wurde in einer deutschen Übersetzung ins Netz gestellt (www.zmag.de). Im Anschluss dokumentieren wir die englische Originalfassung.


Von Gideon Levy

(Aus: Ha'aretz / ZNet 23.08.2003)

TEL AVIV. Israels Kontakte zur nächsten Palästinensergeneration - die unter der Okkupation aufwächst - bzw. Versuche, mit dieser Generation zu einem Frieden zu kommen, werden sich wohl viel problematischer gestalten als noch mit der letzten Generation. Das muss uns bewusst sein, wir müssen dem Rechnung tragen. Noch nie ist eine Generation unter derart schwierigen Bedingungen aufgewachsen, wie die jetzige Generation in den Territorien (besetzte Gebieten). In der ganzen westlichen Welt findet sich kein Ort, an dem Kinder unter vergleichbaren Bedingungen leben müssen. Vor einem Jahr ergab ein USAID-Report (U.S. Agency for International Development), dass etwa 1/4 aller Kinder in den Territorien - vorübergehend oder dauerhaft - von Unterernährung betroffen sind. Zur gleichen Zeit hatte eine Agentur der Vereinten Nationen festgestellt, dass 62 Prozent aller Palästinenser keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung hatten. Seither ist die Situation nur noch schlimmer geworden.

Vergleichbar die Zustände im Gesundheitswesen - wo jegliche medizinische Versorgung, inklusive Impfungen und Erste Hilfe, an einen komplizierten, manchmal hoffnungslosen, bürokratischen Prozess gekoppelt ist. Man braucht nur die Veranstaltungen von 'Physicians for Human Rights' (Ärzte für Menschenrechte) zu besuchen, um sich klar zu werden, unter welchen gesundheitlichen Bedingungen die Kinder in Israels Hinterhof aufwachsen.

Diesen Kindern mangelt es nicht nur an Nahrung und körperlicher Gesundheit, von Dschenin bis Rafah gibt es hunderttausende Kinder, die psychische Traumata erlitten haben. Die Auswirkungen dieser Traumata kann keiner ermessen. Es handelt sich um Kinder, die während der letzten drei Jahren fürchterlich hohen Dosen an 'Tod' ausgesetzt waren - Zerstörungen, Schießereien, Panzer auf den Straßen, Soldaten, die mitten in der Nacht in ihr Haus eindringen, Verhaftungen, Prügel u. multiple Formen von Demütigung. Einige dieser Kinder haben Freunde verloren - manchmal direkt vor ihren Augen; seit September 2000 wurden 230 palästinensische Kinder unter 15 Jahren und 208 Jugendliche zwischen 15 und 18 getötet. Viele andere sind gelähmt oder behindert; auch die Freunde dieser Kinder haben Horrendes miterlebt. Man braucht kein Psychiater zu sein, um zu begreifen, Kinder, die über einen derart langen Zeitraum massiven Ängsten ausgesetzt sind, werden mentale Probleme bekommen. Natürlich wird kaum einem von ihnen professionelle Hilfe zuteil.

Diese Kinder leben in einer so deprivierten Situation, wie es sich israelische Eltern und Kinder gar nicht vorstellen können. Die Kinder haben noch nie einen Strand gesehen, sie kennen keine klimatisierten Räume, sie haben noch nie in einem Schwimmbecken geplanscht, sind noch nie mit dem Bus gefahren u. haben noch keine Reise unternommen. Eine Zugfahrt, eine Flugreise - davon können sie nur träumen. Einige konnten das Haus monatelang nicht verlassen, sie kamen jahrelang nicht aus ihrem Dorf heraus.

Man stelle sich vor: Tag und Nacht immer im selben Dorf - ohne Gemeindezentrum, ohne Sportplatz, ohne Bücher, Spielzeug oder Spiele. Diese Kinder waren noch nie in einem Vergnügungspark, sie wissen nicht, was ein Computer ist, sie waren noch nie im Kino, haben kein einziges Theaterstück gesehen. Sie waren noch nie im Museum, haben noch nie ein Konzert besucht oder an einer außerplanmäßigen Aktivität teilgenommen. Monatelang war ihnen selbst der Schulbesuch verwehrt. Die kulturelle, die soziale Welt dieser Kinder ist von ihren Lebensbedingungen geprägt - von Abriegelungen und Belagerungen durch Israel. Manche Kinder haben ihre Großeltern noch nie gesehen - obwohl die in der nächsten Stadt wohnen. Sie kennen ihre inhaftierten Brüder und Väter nicht (in manchen Fällen sitzen beide Eltern in israelischer Haft) - da Gefängnisbesuche nicht mehr möglich sind. Selbst Kinder werden vielfach ins Gefängnis gesperrt und schwer bestraft - ohne Rücksicht auf ihr Alter - und im Erwachsenenvollzug festgehalten.

Aber nicht nur die Lebensbedingungen palästinensischer Kinder sollten Israelis schlaflose Nächte bereiten. Zur Not dieser Kinder, an der Israel die Hauptschuld trägt, kommt noch hinzu: Es handelt sich um eine Generation, "die Joseph nicht gekannt hat". Ihre Väter haben in Israel gearbeitet - oft von frühester Jugend an - sie arbeiteten in der israelischen Landwirtschaft, bauten israelische Häuser, sie kehrten unsere Straßen oder haben mit Israel Handel getrieben. So kamen sie von Kindheit an mit Israelis in Kontakt - mit ihren guten wie häßlichen Eigenschaften. Sogar deren Sprache lernten sie. Daher ist die Haltung dieser Generation gegenüber Israel komplexer: die überwiegende Mehrheit der Menschen dieser Generation glaubt immer noch an den Frieden. Manche können sich sogar vorstellen, Israel in Teilbereichen zu imitieren.

In Kontrast hierzu wachsen die Kinder der heutigen Generation vollkommen getrennt von uns auf. Das Einzige, was sie von Israel mitbekommen, sind zwei Dinge: Soldaten, die mitten in der Nacht gewaltsam in ihre Häuser eindringen, die ein Loch in die Wand der guten Stube schlagen und die Eltern demütigen; zweitens die Siedler, die ihnen das Land wegnehmen, sie manchmal sogar misshandeln. Unbewaffnete, nichtgewalttätige Israelis - für diese Generation etwas völlig Unbekanntes. Die einzige Sorte Israelis, die die jetzigen Kinder Palästinas - die künftige Erwachsenengeneration - kennen, sind Israelis, die sie zu Gefangenen in ihren Häusern machen, die auf sie schießen, sie verprügeln und demütigen. Um die Weltsicht dieser Kinder zu formen, braucht es die (tägliche) Dosis Aufwiegelung in den Tageslagern oder das palästinensische TV gar nicht. Diese Kinder brauchen sich ja nur umzublicken, sich anzusehen, was rund um ihr Elternhaus geschieht. Werden diese Kinder erwachsen, begleiten sie die Bilder weiter. Sie werden die Horrorszenarien, denen sie ausgesetzt waren, nicht vergessen können - auch nicht, wem sie sie verdanken. Vor unseren Augen wächst hier also eine Generation heran, die nicht nur hungrig und krank ist, psychisch traumatisiert und ohne anständige Ausbildung, vielmehr ist dies eine durstige Generation: sie dürstet nach Rache, der Hass frisst sie auf. Eine Botschaft, die äußerst besorgt machen sollte - nicht nur die Eltern dieser armen Kinder, auch uns alle.

Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "The Nightmare Continues in Palestine"
Quelle: http://www.zmag.de/article/article.php?print=true&id=793


The Nightmare Continues in Palestine

The generation that "doesn't know Joseph"

By Gideon Levy

(Ha'aretz; August 23, 2003)

TEL AVIV - Israel's contact with the next generation of Palestinians-those who grew up under the occupation-and its attempts to achieve peace with them, will be far more problematic than with the generation that preceded it. This is something we need to be aware of and take into account. No past generation grew up in conditions as severe as those that afflicted the members of the current generation in the territories. Indeed, there is no place in the Western world where children live in comparable conditions. A year ago, a report by USAID, the U.S. Agency for International Development, found that about a quarter of the children in the territories suffer from malnutrition, either prolonged or passing. A United Nations agency found at the time that 62 percent of the Palestinians did not have sufficient access to food. Since then, the situation has only been aggravated.

A similar state of affairs exists in the health system, in which all medical treatment, including vaccinations and first aid, is a complicated, and at times impossible, bureaucratic process. One need only participate in one of the events held by Physicians for Human Rights to see the health conditions in which children are growing up in Israel's backyard.

It is not only food and physical health that these children lack. From Jenin to Rafah, hundreds of thousands of children are suffering from psychological traumas whose impact is difficult to gauge. These are children who, in the past three years, have been exposed to death in truly frightening dosages, to destruction, shooting, tanks in the streets, soldiers invading their homes in the middle of the night, arrests, beatings and multiple forms of humiliation. Some of them lost their friends, in some cases before their eyes: 230 Palestinian children under the age of 15 and another 208 aged 15-18 have been killed since September 2000. Many others have been rendered paralyzed or disabled, and their friends have been exposed to horrors. One doesn't have to be a psychologist to understand that children who live with deep anxiety for such a lengthy period will suffer mental problems. And, of course, hardly any of them are getting professional assistance.

These children are growing up with deprivations that are hard for an Israeli parent or child to imagine. They have never seen a beach, have never been in an air conditioned room, have never splashed around in a swimming pool, have never been on a bus, have never gone on a trip anywhere-they can only dream of being on a train or a plane. Some of them were unable to leave their homes for months on end, or leave their villages for years.

Day and night in the same village, without a community center, without a sports field, without books, toys or games. They have never been to an amusement park, they have no idea what a computer is, they have never been to a movie theater, seen a play, visited a museum, attended a concert or taken part in extracurricular activities. For months they couldn't even get to school. Their cultural and social world was formed by the conditions of their lives under the closures and sieges imposed by Israel. Some of them have never seen their grandparents, even though they live in a nearby town; others have never seen their imprisoned brothers or fathers (in some cases, both parents are in Israeli detention) since visits to prisons became impossible. Many children, too, have been arrested and given severe punishments without any consideration for their age, and have been jailed together with adults.

However, it is not only the living conditions of the Palestinian children that should be causing Israelis sleepless nights. Because in addition to their distress, for most of which Israel is responsible, this is a generation that "did not know Joseph." Their fathers worked in Israel, in some cases from a very early age, working its fields, building its houses, cleaning its streets or doing commerce with Israel. From childhood they were exposed to Israelis, becoming familiar with both their ugly and their good sides and even learning their language. Consequently, the attitude of that generation toward Israel is more complex: the great majority of that generation still believes in peace and some of it aspires to emulate Israel in certain spheres.

In contrast, the children of the present generation are totally cut off from us. Their only exposure to Israel is through two figures: the soldier who bursts violently into their home in the dead of night, smashes a hole in their living room wall and humiliates their parents; or the settler, who has plundered their land and sometimes also abuses them.

This is a generation that has never heard of nonviolent, unarmed Israelis. The only Israelis today's Palestinian children-tomorrow's generation of adults-have seen are those who imprison them in their homes, shoot them, beat them and humiliate them. They don't need the incitement doses in day camps or Palestinian television to mold their worldview. All they have to do is look around at what is happening close to home.

When they come of age they will carry these memories with them. They will not be able to forget the spectacles of horror they were exposed to, or those they hold responsible for them. Thus before our eyes a generation is growing that is not only hungry, psychologically traumatized, unhealthy and without proper education-but is also thirsty for revenge and consumed by hatred. This is a message that should be of deep concern, not only to the parents of these wretched children, but to us all.

ZNet | Mideast


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