Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tag des Bodens, Tag des Protests

Palästinenser und Unterstützer in aller Welt erinnern an illegale Landnahme

Von Roland Etzel *

Steine gegen Tränengas am »Tag des Bodens« in Kalandia, einem Grenzübergang vom israelisch besetzten Westjordanland zum israelisch besetzten Ostjerusalem. Der wichtigste palästinensische Protesttag gegen den Landraub wurde in diesem Jahr unter der Losung »Globaler Marsch nach Jerusalem« auch in zahlreichen Orten weit außerhalb Israels international solidarisch begleitet.

Sechs Palästinenser wurden am 30. März 1976 von israelischer Polizei erschossen, als sie sich innerhalb einer Demonstration gegen die willkürliche Vertreibung von ihrem Grund und Boden wehrten. Seitdem wird an diesem Tag von Palästinensern und Unterstützern in aller Welt ihrer gedacht - und ebenso Tausender anderer, die seitdem vor allem in den von Israel besetzten Palästinenserterritorien um ihr Wohnhaus, ihren Olivenhain oder ihr Weideland gebracht wurden.

Auch in diesem Jahr waren Proteste angekündigt worden. Die bis zum frühen Abend härteste Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizei gab es am Freitag in Kalandia. Dort, am wichtigsten Grenzübergang vom Westjordanland nach Ostjerusalem, trafen Hunderte protestierende Palästinenser auf israelische Polizei. Diese hatte zwar angekündigt, sie wolle jegliche Gewalteskalation vermeiden. Wenn man allerdings wie die israelischen Behörden das Westjordanland abriegelt, den Zugang zum Jerusalemer Tempelberg für Palästinenser sperrt und noch ein paar mehr Checkpoints in der Westbank platziert als bisher schon, ist die behauptete Gutwilligkeit schwer in Frage gestellt.

Und so flogen denn in Kalandia Steine von der einen Seite und Gummigeschosse von der anderen Seite; das Ganze von Tränengas überlagert. Dennoch schwenkten etwa tausend am Checkpoint zurückgehaltene Palästinenser, wie Augenzeugen berichteten und auch auf Youtube zu erkennen war, palästinensische Fähnchen.

Der palästinensische Abgeordnete Mustafa Barguti, der unter ihnen war und von dem keinerlei Gewalt ausging, wie die israelische Seite einräumte, wurde am Kopf verletzt. Die Behauptung, Palästinenser hätten ihn geschlagen, wird von Beteiligten als absurd bezeichnet. Demonstrationen mit insgesamt etwa100 000 Teilnehmern gab es weiter in Gaza, der jordanischen Hauptstadt Amman und an der Grenze Libanons zu Israel, bis zum Abend ohne schwere Zwischenfälle.

Mit einem symbolischen »Globalen Marsch auf Jerusalem« beteiligten sich in diesem Jahr aber auch Tausende Mitglieder von Palästina-Solidaritäts-Initiativen in vielen Staaten Europas, auch in Deutschland, am »Tag des Bodens«. Hinter die Initiative im deutschsprachigen Raum haben sich unter anderen Evelyn Hecht-Galinski, Felicia Langer und Bundestagsabgeordnete der LINKEN gestellt. Vor allem soll gegen die schleichende Verdrängung der Palästinenser aus Jerusalem protestiert werden.

Die Organisatoren machen jedoch ebenso darauf aufmerksam, dass jede Behauptung israelischerseits, man wolle »in der Zukunft« einen Palästinenserstaat tolerieren, unglaubwürdig sei. Seit der Besetzung der palästinensischen Territorien durch Israel 1967 haben sich über 500 000 jüdische Siedler dort Land genommen, mehr als die Hälfte davon in den vergangenen 15 Jahren.

* Aus: neues deutschland, 31. März 2012


Protest gegen Landraub

Von Joachim Guilliard **

In Dutzenden Städten in und um Israel protestierten am Freitag (30. März) Zehntausende gegen die israelische Besatzungspolitik. Dabei kam es an Checkpoints zu schweren Auseinandersetzungen mit mindestens einem Toten und zahlreichen Verwundeten.

Aktivisten aus der ganzen Welt waren angereist, um sich am ersten »Globalen Marsch nach Jerusalem« zu beteiligen. Die weltweite Initiative hatte den traditionellen »Tag des Bodens« gewählt, um gegen den permanenten Landraub in den von Israel besetzten Gebieten zu protestieren und die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit besonders auf die Lage in Ost-Jerusalem zu lenken. Dort drohen der völkerrechtswidrige Bau jüdischer Siedlungen und die fortgesetzte Vertreibung der Palästinenser den Charakter Jerusalem als religiöses Zentrum und kulturelles Erbe der drei großen monotheistischen Religionen zu zerstören.

In Beirut waren schon an den Tagen zuvor über 250 Aktivisten aus den USA und Nordamerika zusammengekommen. 150 weitere vom asiatischen Konvoi saßen im Hafen fest, da ihnen die Einreise verweigert wurde. Die Palästinenser in den Flüchtlingslagern, die sonst den größten Teil der Demonstranten im Libanon stellen, wurden am Verlassen ihrer Unterkünfte gehindert, so daß sich am Ende nur 5000 Teilnehmer in der Nähe der Grenze zu Israel versammeln konnten.

Der größte Marsch fand in Jordanien statt, wo nach Angaben der Organisatoren über 100000 Teilnehmer zusammenkamen. Auch sie durften allerdings nur bis zu einer Anhöhe marschieren, von der aus Jerusalem zu sehen ist.

Die israelischen Medien hatten seit Tagen Stimmung gegen den Marsch gemacht und ihn als vom Iran und radikalen islamistischen Organisationen gesteuert diffamiert. Tatsächlich wird der »Globale Marsch« von einem breiten Bündnis palästinensischer und internationaler Organisationen getragen. Er steht in der Tradition früherer gewaltfreier Solidaritätskonvois wie dem »Gaza Freedom March« oder den »Free Gaza Flottillen«.

Die israelische Armee verstärkte ihre Präsenz an den Grenzen und riegelte das besetzte Westjordanland vollständig ab. Die Zugänge nach Jerusalem wurden gesperrt. Zur Al-Aksa-Moschee auf den Tempelberg in Jerusalem durften nur palästinensischen Männer, die älter als 40 Jahre sind und ihren Wohnsitz in Israel haben.

Zu den ersten Zusammenstößen kam es am Qalandiya-Checkpoint im Norden Jerusalems. Die israelischen Sicherheitskräfte feuerten massive Salven mit Tränengasgranaten auf die 3000 palästinensischen Demonstranten und verletzten Dutzende. Auch Mustafa Barghouti, Generalsekretär der Palästinensischen Nationalen Ini­tiative, wurde von einer Tränengaskartusche am Kopf getroffen.

Bei ähnlichen Auseinandersetzungen in Bethlehem wurde ein 20jähriger durch eine Tränengasgranate lebensgefährlich verletzt. Am Damaskus-Tor in der Altstadt von Jerusalem wurden die zahlreichen Demonstranten jeglichen Alters mit Tränengas und Gummigeschossen angegriffen. Laut Russia Today (RT) stieg die Gesamtzahl der im Westjordanland verletzten Palästinenser während des Nachmittags auf über 200.

Die schwerwiegendsten Zusammenstöße gab es am Erez-Übergang im Gazastreifen. Laut RT-Reporterin Paula Slier wurde hier ein Jugendlicher von der israelischen Armee getötet.

** Aus: junge Welt, 31. März 2012


Demografischer Krieg

Von Roland Etzel ***

Die Schüsse vom 30. März 1976 und ihre Folgen gehören zum kollektiven palästinensischen Gedächtnis. Nicht weil derlei Geschehnisse einmalig blieben, sondern weil sie für eine nach dem Krieg von 1967 bis dato nicht gekannte Rigidität der israelischen Behörden gegenüber Palästinensern stehen; Palästinensern, die in diesem Falle sogar israelische Staatsbürger waren.

Ähnliches vollzog sich seitdem Hunderte Male. Militante Einwanderer besetzen palästinensisches Land, und irgendwann werden ihnen dafür vom israelischen Staat »legitime« Eigentumstitel übertragen. Die verniedlichende Bezeichnung »Siedler« für jene Landnehmer wird täglich benutzt und ist dennoch nichts weniger als extrem verharmlosend; schafft sie doch vollendete Tatsachen in den laut UN-Resolution 242 von 1967 von Israel widerrechtlich besetzten Gebieten. Es ist ebenso eine Verharmlosung, diese schleichenden Implementierung demografischer Fakten - die israelische Regierung spricht bisweilen einfach von Wohnungsbau - als »Hindernis« für den Friedensprozess zu bezeichnen.

Hindernisse lassen sich, wenn auch mit Mühe, überwinden. Landwegnahme aber schließt Frieden aus. So ist nachvollziehbar, dass die Palästinenser sich erst nach einem unbefristeten Siedlungsstopp zu weiteren Verhandlungen bereit erklären. Anderenfalls verlangte man von ihnen, Frieden mit der eigenen Existenzgrundlage zu bezahlen.

*** Aus: neues deutschland, 31. März 2012 (Kommentar)


Zurück zur Palästina-Seite

Zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage