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Tiefe Gräben

Palästina ist zweigeteilt in Gaza und Westjordanland: Die vermeintliche Ruhe wird nicht von Bestand sein. Bewohner rechnen mit neuen Konflikten.

Von Mohammed Omer, Rafah *

Wochen nach dem Staatsstreich der von den USA und Israel unterstützten Fatah gegen die gewählte Hamas-Regierung ist Normalität im besetzen Palästina eingekehrt. Eine Normalität, die auf der Erkenntnis beruht, daß die Palästinenser fortan in zwei getrennten Staaten leben. Im Westen der eine, von einer Mauer eingegrenzt und unter ständiger Überwachung und Angriffen einer Besatzungsmacht, die jegliche Schuld von sich weist. Im Osten der zweite, der einem Schweizer Käse gleicht, so stark ist das Gebiet von Transitstraßen und armeebeschützten Siedlungen durchlöchert. Die rassistische Trennung der israelischen und palästinensischen Bevölkerung gehört hier zum Alltag.

Aber wie gehen die Menschen mit der neuen Realität des besetzten Palästina um? Welche Perspektiven sehen sie? Die Frage stelle ich einer Gruppen von Intellektuellen. Imad Al Ifranji antwortet als erster. »Es ist eine tragische Situation«, sagt der Journalist der Zeitung Al Quds. Ohne eine Annäherung wird die gewählte Regierung weiter »von ausländischen Hilfsgeldern abhängig sein«, sagt er.

Derzeit scheint Ruhe in den Gazastreifen zurückgekehrt zu sein. Bilder der internationalen Nachrichtenagenturen zeigen alltägliche Szenen. »Doch diese Bilder trügen«, sagt Al Ifranji, »denn alles weist auf einen weiteren militärischen Konflikt mit Israel und zunehmenden Spannungen mit der Regierung in Ramallah hin.« Jüngst habe der Informationsminister in Ramallah die Hamas-Regierung als »Zarqawis Regime« bezeichnet, erbost sich der Journalist über den konstruierten Zusammenhang zu Al Qaida. »Heißt das, daß die 1,5 Millionen Palästinenser hier im Gazastreifen keine Palästinenser mehr sind?« Aus den Worten spricht die Entäuschung über die Politik der Autonomiebehörde. Die Menschen fühlen sich von der Regierung in Ramallah verraten. Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, habe der Hamas jüngst vorgeworfen, Al Qaida Zuflucht zu gewähren. »Damit hat er Israel einen Vorwand geliefert, den Gazastreifen anzugreifen«, sagt Al Ifranji.

US-Präsident George W. Bush hat inzwischen zu einer neuen Friedenskonferenz für Palästina aufgerufen. Die Mehrheit der Betroffenen sieht in diesem Vorstoß aber nichts als ein politisches Manöver, um von der Verantwortung Washingtons für den Konflikt abzulenken. Trotzdem will auch Akram Habeeb nicht resignieren. »Ich bin noch immer optimistisch«, sagt der Professor für englische Literatur, um, wie zur Selbstbestätigung, nachzuschieben: »Wir werden hier überleben«. Die Palästinenser hätten in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam für Frieden gekämpft. Sie seien keine Terroristen, forderten aber ihre Rechte ein. Nach langen Jahren der Auseinandersetzungen würden beide Seiten leiden, die Palästinenser wie auch die Israelis. »Und das ist Bushs letzte Chance«, meint der Literaturwissenschaftler: »Wir erhoffen uns den Frieden, aber eben auch die uns zustehenden Rechte«.

Abdullah Issa, der Chefredakteur der meistgelesenen palästinensischen Internetzeitschrift Al Watan stimmt mit dieser Einschätzung überein. Es gebe eine gewisse Hoffnung für die von Bush geplante Konferenz, sagt er. Es sei an der Zeit, daß ­Washington die israelische Regierung zu Zugeständnissen drängt. Bis jetzt biete Israel den Palästinensern ein Land unter Besatzung an, das von Mauern eingegrenzt ist. »Aber das ist doch nicht der Staat, in dem wir leben wollen«, sagt Issa. Hier sei Bush gefordert. »Es gibt Hoffnung«, bekräftigt er. Aber nur, wenn der US-Präsident in diesem Sinne einschreite.

Donia Al Amal Ismail, Poetin und Mutter von vier Kindern, ist in ihrer Einschätzung verhaltener. »Unter den jetzigen Bedingungen sehe ich keine Zukunft für Gaza, eigentlich noch nicht einmal eine Gegenwart.« Die Einschätzungen von Ifranji und Issa seien widersprüchlich. Derzeit könne weder die Sicherheit der Menschen garantiert, noch könne der Alltag organisiert werden. »Wir müssen damit rechnen, daß sich die Lage noch sehr viel weiter verschlechtern kann.« Die Ruhe, die eingekehrt ist, sei trügerisch, meint auch sie: »Gaza wird bald explodieren«.

In Anbetracht der befürchteten Eskalation versucht zu fliehen, wer fliehen kann. Besonders Jugendliche, Fachkräfte und Wissenschaftler bemühen sich, in irgendeinem Land Asyl zu bekommen. Ohne einen Paß oder Personalausweis ist Ismail wie schätzungsweise 45000 weitere Bewohner des Gaza­streifens eine Gefangene im eigenen Land: »Selbst wenn ich das müßte, ich kann nicht aus Gaza raus.«

* Aus: junge Welt, 20. August 2007


"Bürgerkrieg soll die Palästinenser schwächen"

USA und Israel haben Verständigung zwischen Mahmud Abbas und der Hamas sabottiert. Ein Gespräch mit Leila Shahid

Leila Shahid ist Vertreterin Palästinas bei der Europäi­schen Union *

Wie wirkt sich die Zwietracht unter den Palästinensern auf deren legitime Bestrebungen aus, ihren Staat zu gründen?

Die Situation ist zur Zeit sehr schwierig und sehr ernst. Das schlimmste ist, daß es sich um eine Auseinandersetzung unter Palästinensern handelt. Unsere Bevölkerung ist schon im Gefolge der »Nakba«, der Katastrophe von 1948, zerstreut worden. Ein Teil blieb in Israel, ein anderer ging ins Exil, und ein weiterer lebt in den seit der Eroberung von 1967 militärisch besetzten Gebieten. Wir sind nicht durch einen gemeinsamen Raum, ein gemeinsames Territorium verbunden. Wir sind also eigentlich auch nicht in der Lage, einen Bürgerkrieg zu führen. Doch was sich in Gaza abgespielt hat, kann man nicht anders bezeichnen: Es war der Beginn eines Bürgerkriegs. Leider kann niemand garantieren, daß etwas Derartiges nicht auch im Westjordanland oder in den Flüchtlingslagern losgeht, denn es gibt Kräfte, die das anheizen. Die USA verfolgen eine Bürgerkriegsstrategie, und das nicht nur in Palästina, sondern auch im Libanon oder im Irak.

Wie sieht die Situation in Gaza aus?

Die Lage ist katastrophal. Die Menschen leben dort wie in einem großen Gefängnis, alles ist ihnen verschlossen. Und selbst, wer Arbeit hat wie beispielsweise die Landwirte, hat keine Möglichkeit, etwas ein- oder auszuführen. Die Menschen können sich nirgendwohin bewegen. Das schließt jede Verbesserung ihrer Lebensbedingungen aus. Zwei Drittel der Bevölkerung von Gaza leben unter der Armutsgrenze, 70 Prozent sind arbeitslos.

Hat diese Politik letztendlich den Aufstieg der Hamas begünstigt?

Der entscheidende Faktor, der dazu beigetragen hat, daß die Hamas gestärkt wurde, ist das Versagen der Fatah. Denn seit diese 1994 mit Yassir Arafat nach Palästina kam, versprach sie den Menschen, dafür zu sorgen, daß die Besatzung endet. Sie versprach, die Wirtschaft anzukurbeln und zur EU eine gute Partnerschaft aufzubauen. Sie sprach unentwegt davon, daß alles besser werden würde. Aber im Laufe der Zeit wurde den Menschen bewußt, daß genau das Gegenteil eintrat. Sie mußten erleben, daß die Bombardements enorm zunahmen, die israelischen Siedlungen ständig erweitert wurden, daß schließlich die Mauer errichtet wurde. Die Strangulierung ist, verglichen mit früheren Zeiten, umso tiefgreifender, als alle Friedensbemühungen ins Leere gelaufen sind und niemand sich darum gekümmert hat, das zu verhindern und Israel zur Räson zu rufen: weder die Europäer noch die Amerikaner.

Die Palästinenser haben sich bei den letzten Wahlen für die Hamas ausgesprochen, nicht etwa, weil sie ein islamistisches Programm hat. Sie wollten einfach von einer verantwortungsvolleren Partei vertreten werden. Leider haben die Amerikaner, die Europäer und sogar die arabischen Staaten sich geweigert, mit der Hamas zu verhandeln. Schließlich hat Mahmoud Abbas angefangen, mit der Hamas über eine Koalitionsregierung zu sprechen. Nach langen Gesprächen einigte man sich auf die Bildung einer Regierung mit einem sehr vernünftigen Programm, das allen Forderungen gerecht wird, die bisherigen Beschlüsse der PLO anerkennt, ebenso wie die der arabischen Gipfeltreffen und es Mahmud Abbas erlaubt, mit Israel zu verhandeln, allerdings unter der Bedingung, daß ein mögliches Abkommen der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wird. Kurz, es war ein ausgezeichnetes Programm. Dennoch verfügten die Amerikaner, daß mit dieser Regierung nicht verhandelt werden darf. Wenn man es in dieser Weise ablehnt, mit den Menschen zu sprechen – was anderes läßt man ihnen dann noch als die Gewalt?

Interview: Randa Achmawi

* Aus: junge Welt, 20. August 2007




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