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"Wir brauchen eine Volksbewegung des friedlichen Widerstandes"

Siedlungsstopp und Gefangenenfreilassung: Palästinenser müssen geeint agieren und internationalen Druck gegen Israel aufbauen. Ein Gespräch mit Marwan Barghuti *

Marwan Barghuti (50) ist Mitglied des Fatah-Zentralkomitees und in Israel inhaftiert. Er gehört zu den führenden Köpfen der ersten und zweiten Intifada (Dezember 1987 bis September 1993 und Oktober 2000 bis Februar 2005). Barghuti ist in Israel inhaftiert. Er war am 6. Juni 2002 wegen mehrfachen Mordes und Terrorismus zu fünfmal lebenslänglich und 40 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Barghuti bestritt sowohl die Anklage als auch die Rechtmäßigkeit des Verfahrens und weigerte sich, den Gerichtshof als solchen anzuerkennen.

Was sind Ihre Gedanken zum neunten Jahrestag des Ausbruchs der zweiten Intifada?

Ich möchte allen Palästinensern meinen tiefen Respekt für ihre Standhaftigkeit und ihr unerschütterliches Festhalten an ihren Rechten ausdrücken, ganz gleich, wieviel sie durchmachen und noch durchmachen werden, weil es in puncto Freiheit, Rückkehrrecht und Unabhängigkeit keinen Kompromiß gibt.

Glauben Sie, daß wir uns auf dem Weg zu einer dritten Intifada befinden?

Die Frage, die man sich stellen sollte, lautet, warum die Al-Aqsa-Intifada im Jahr 2000 ausgebrochen ist? War der Grund dafür nicht der Kollaps des Friedensprozesses? Weil die Verhandlungen einen toten Punkt erreichten? Lag das nicht an der kontinuierlichen Besiedlung Jerusalems und seiner Verwandlung in eine jüdisch geprägte Stadt? An der Weigerung Israels, die Besatzung zu beenden und palästinensische Rechte zu akzeptieren? Und gibt es jetzt einen israelischen Friedenspartner? Die Antwort lautet ganz klar: Nein! Und hat die Siedlungspolitik etwa aufgehört? Im Gegenteil, wir erleben gegenwärtig den Höhepunkt des Siedlungsbaus seit 1967, und obendrein wird daran gearbeitet, Jerusalem religiös und kulturell einen jüdischen Charakter zu geben. Zuerst wurde ein Haus nach dem anderen gebaut, jetzt ist es ein Häuserblock nach dem anderen. Ich sage das in aller Deutlichkeit: Jeder, der meint, mit der gegenwärtigen israelischen Regierung sei Frieden möglich, mit den vorherigen Regierungen aber nicht, der spinnt.

Das Problem ist, daß es in Israel keinen Führer wie Charles de Gaulle in Frankreich gibt, der die Kolonialherrschaft in Algerien beendete, oder wie Frederik Willem de Klerk, der Präsident des Apartheid-Regimes in Südafrika, der Nelson Mandela die Macht übergab. Israel gibt keinen Frieden und ist zur Beendigung der Besatzung nicht bereit.

Eine Intifada kommt nicht per Beschluß durch diesen oder jenen Funktionär oder Führer oder dieser oder jener Fraktion zustande. Sie ist das Resultat des kollektiven Willens der Palästinenser. So war es bei der ersten und der zweiten Intifada.

Was wir jetzt brauchen, ist eine Volksbewegung des friedlichen Widerstandes gegen die Siedlungspolitik, eine Bewegung, an der alle Führer, Fraktionen, Organisationen und die Palästinensische Autonomiebehörde beteiligt sind. Es ist klar, daß die Bedingungen, die zum Ausbruch der zweiten Intifada führten, weiterhin vorhanden sind.

Was meinen Sie zum New Yorker Gipfeltreffen zwischen dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und US-Präsidenten Barack Obama im vergangenen Monat?

Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, daß es nicht stattfinden würde, weil der Reinfall absehbar war. Es ist bedauerlich, daß sich die von Obama artikulierte und von Arabern, Muslimen und Palästinensern begrüßte amerikanische Haltung nach und nach in Luft auflöst. Von diesem Gipfeltreffen haben nur Israelis und Amerikaner profitiert. Es war wichtig, daß sich Präsident Abbas geweigert hat, an den Verhandlungstisch zurückzukehren bevor es einen Siedlungsstopp gibt. An dieser Position sollte er festhalten. Was haben wir durch neue Verhandlungen mit solch einer israelischen Regierung zu gewinnen?

Ich fordere das Exekutivkomitee der PLO auf, darauf zu beharren, daß Israel sich – als Vorbedingung für jede Art von Verhandlungen mit der israelischen Regierung – grundsätzlich zu einem Ende der Besatzung, einem Rückzug auf die Grenzen von 1967, einer Anerkennung des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung, der Schaffung eines unabhängigen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt, einer Anerkennung der UN-Resolution 194, einem Siedlungsstopp sowie der Freilassung von Gefangenen verpflichtet.

Ich hoffe, daß wir nicht die Erfahrung der letzten Jahre wiederholen, in denen die Israelis die Verhandlungen als Deckmantel für einen Ausbau der Siedlungen nutzten und die Weltöffentlichkeit hinters Licht führten.

Ist ein erfolgreicher Widerstand gegen Israels Siedlungsprojekt möglich?

Erstens, was wir brauchen, ist eine einheitliche und verbindliche politische Haltung, auf der Grundlage, über die wir bereits gesprochen haben. Zweitens, das PLO-Exekutivkomitee sollte gemeinsam mit allen Fraktionen einen Plan und eine Vision für eine breite und friedliche Massenbewegung gegen die Siedlungen ausarbeiten. Das Exekutivkomitee, die Fraktionen und die Mitglieder des palästinensischen Parlaments müssen Massendemonstrationen anregen.

Was wir von Israel und den USA brauchen, sind nicht weitere Verhandlungen, sondern eine Entscheidung, die Besatzung zu beenden. Verhandlungen hat es jahrelang gegeben. Das reicht! Die palästinensische Führung sollte daran arbeiten, Israel zu isolieren, es unter Druck setzen und dazu zu zwingen, die internationalen Resolutionen umzusetzen.

Ministerpräsident Salam Fajad hat einen Plan mit dem Titel »Palästina: Beendigung der Besatzung, Errichtung des Staates« vorgelegt. Was halten Sie davon?

Ich habe das Dokument mehr als einmal gelesen und denke: Das ist ein guter Plan. Er argumentiert, daß ein Ende der Besatzung die Voraussetzung für die Schaffung des Staates ist. Die PLO und die einzelnen Fraktionen sollten diesen Plan allerdings durch einen Entwurf für einen friedlichen Volkswiderstand ergänzen.

Wie stehen Sie zu den Bemühungen um eine innerpalästinensische Aussöhnung und zum aktuellen ägyptischen Vorschlag, zumal Sie einer derjenigen waren, die das »Nationale Versöhnungsdokument«, den Brief der Gefangenen, mitinitiiert haben?

Das Dokument der Gefangenen war faktisch das Produkt des kollektiven Willens aller Fraktionen innerhalb der Gefängnisse. Es war eine Ehre für mich, zusammen mit den Führern von Hamas, Islamischem Dschihad, PFLP, DFLP und Fatah daran mit­zuarbeiten. Das ist immer noch das beste Programm für die nationale Einheit.

Den ägyptischen Vorschlag habe ich gelesen, mein Anwalt Khader Ishqerat hat ihn mir geschickt. Ich begrüße diesen Vorschlag. Ich rufe alle nationalen und islamischen Fraktionen dazu auf, diese Gelegenheit zu ergreifen, einen umfassenden nationalen Dialog zu führen und vor Ende Oktober eine Übereinkunft zu unterzeichnen, verbunden mit der dringenden Verkündung eines Termins für Neuwahlen des Präsidenten, des Parlaments und der Mitglieder des Palästinensischen Nationalrats. Das sollte mit einem Ende der Medienhetze und der politischen Verhaftungen einhergehen. Die Fraktionen müssen Gefangene freilassen und eine neue Seite in den Beziehungen aufschlagen, und zwar auf der Grundlage von Pluralismus, nationaler Partnerschaft und regulären Wahlen.

Wann erwarten Sie die Einigung über einen Gefangenenaustausch mit Israel?

Wir verfolgen dieses Thema in der Berichterstattung der Medien und hoffen, daß es einen Austausch geben wird, bei dem alle Gefangenen entlassen werden. Die von der Hamas übermittelte Liste schließt niemanden aus, und wir unterstützen diese entschiedene Haltung.

Interview: Maan News Agency

* Eine ausführliche Fassung dieses Interviews wurde am 8. Oktober 2009 von der unabhängigen palästinensischen Nachrichtenagentur Maan News Agency veröffentlicht. Übersetzung aus dem Englischen: Raoul Rigault

Aus: junge Welt, 17. Oktober 2009


Nobelpreisträgerin Ada Jonath fordert Freiheit für Gefangene

Von Yossi Bartal **

Wie vermutlich überall wird auch in Israel die Verleihung des Nobelpreises an einen Staatsbürger als eine Auszeichnung für das ganze Land wahrgenommen. Die Verleihung des diesjährigen Nobelpreises für Chemie an die israelische Professorin Ada Jonath löste in Israel eine kitschig-nationale Feierlichkeit aus, die, wie erwartet, von der Regierung dazu benutzt wurde, sich selbst zu loben. Der rechte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ließ verlauten, daß »die Ehrung Israel mit großem Stolz erfüllt«. Und Außenminister Avigdor Lieberman, der für seine rechtextreme und rassistische Politik bekannt ist, erklärte, »ihr Sieg hilft, das wirkliche Bild von Israel zu zeigen – als Land der Wissenschaft und Technologie, eines der fortschrittlichsten der Welt«.

Dabei hätte es bleiben können – bei einer angenehmen nationalen Gelegenheit, sich auf die Schulter zu klopfen und die zunehmende internationale Kritik an der Besatzungspolitik und die Kriegsverbrechen in Gaza zu vergessen. Hätte die geehrte Preisträgerin nur ihre Rolle richtig gespielt. Nun aber hat Ada Jonath in einem Radiointerview die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen gefordert, ohne daran die Forderung nach einer Freilassung des 2006 von palästinensischen Militanten gefangenen israelischen Soldaten Gilad Schalit zu knüpfen. Die Professorin erklärte ihre Position in bezug auf die israelische Besatzungspolitik wie folgt: »Ich verstehe von vornherein nicht, warum wir sie [palästinensische Kämpfer] überhaupt inhaftieren. Alle Gefangenen sollen zurück nach Palästina gebracht werden, unabhängig einer Abmachung im Fall Gilad Schalit. Wenn wir palästinensische Häftlinge über Jahre hinweg gefangenhalten, wächst die Verbitterung ihrer Familien, und wir schaffen selbst neue Terroristen.«

Der Moderator der Radiosendung sowie alle anderen, die nur nichtssagende Worte von Jonath erwartet hatten, waren schockiert. Die etwa 8000 gefangenen Palästinenser in Israel, von denen viele ohne ein Gerichtsverfahren unter miserablen Umständen festgehalten werden, sind der israelischen oder europäischen Öffentlichkeit fast nicht präsent. Über diese Gefangenen als Menschen in der Öffentlichkeit zu reden und außerdem ihre Freilassung zu fordern, ist geradezu unvorstellbar in den israelischen Medien, noch dazu von jemandem, der kurz zuvor als Nationalheld angesehen wurde. Nicht umsonst wurde Ada Jonath kein zweites Mal interviewt. Die ganze Geschichte wurde in den Medien als ein peinlicher Ausrutscher einer zu lange im Labor untergetauchten Wissenschaftlerin präsentiert. Schade nur, daß die internationale Presse die Aussagen dieser mutigen Professorin ignoriert hat.

** Aus: junge Welt, 17. Oktober 2009




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