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"In einem Zustand der Verzweiflung"

Fast jeder im Gaza-Streifen ist ein Jahr nach dem Machtkampf zwischen Hamas und Fatah traumatisiert. Ein Gespräch mit Eyad Sarraj

Dr. Eyad Sarraj (65) studierte Medizin in Alexandria, Psychiatrie in London und ist Präsident des »Gaza Community Mental Health Program«. Zur Zeit engagiert er sich in der palästinensisch-internationalen Kampagne, die seit einem Jahr andauernde Blockade von Gaza zu beenden



Vor genau einem Jahr hat der Bruderkampf zwischen Hamas und Fatah im Gaza-Streifen zur Machtübernahme der Hamas geführt, was manche als Putsch bezeichneten. Wie haben Sie diese Tage erlebt?

Als Hamas militärisch die Kontrolle übernahm und während der Zusammenstöße war der Grad an Grausamkeiten und Brutalität unter Palästinensern so, wie wir es nie gehört hatten: Menschen wurden vom 15. Stock in die Tiefe gestoßen, Verwundete wurden in Krankenhäusern erschossen, Menschen wurden auf unglaubliche Weise gefoltert.

Meinen Sie da Fatah und Hamas?

Beide Seiten. Hunderte haben ihre Beine verloren, weil man ihnen in die Kniescheibe schoß. Menschen sind also verkrüppelt. Von so etwas hatten wir in unserer Geschichte nie gehört. Es ist so traurig zu sagen, nein, es ist nicht traurig, es ist Teil unserer Menschlichkeit zu sagen, daß die Israelis nicht so bösartig und brutal zu uns waren, wie wir es zu uns selbst waren. Das alles vermittelt einem, in welcher Verfassung wir nun angelangt sind: Von der Nakba über die Besatzung, Folter und so weiter, es sind angehäufte Schichten von Trauma. Das hat zu ernsthaften Problemen geführt.

Gaza ist total abgeriegelt: Nur Schwerkranke, und auch das nur mit Mühe, können ausreisen: Israel hat seit dem 12. Juni 2007 den Export von Gütern bis auf einige Tage der Erdbeerernte gänzlich verboten. 3 900 von 4 000 Fabriken im Gaza-Streifen stehen still. Wie beschreiben Sie die seelische Verfassung Gazas? Gaza kann heutzutage mit fünf »D« beschrieben werden: Eines steht für »despair« (Verzweiflung), das zweite für »deprivation« (Mangel). Dann kommt »dependency« (Abhängigkeit). 70 Prozent und mehr der Bevölkerung sind auf Nahrungsmittelspenden angewiesen und zwar langfristig. Es folgt »disintegration« (Auflösung): Vieles fällt auseinander, das politische System, der Verwaltungs- und Sicherheitsapparat, der Stammesverband, die Moral. Die Menschen klagen über einen Verlust der Sitten. Dazu kommen noch Wellen von »defiance« (Trotz). Heute befinden wir uns in einem Zustand der Verzweiflung. Das zeigt sich anhand vieler Fälle von Depression.

Sind Männer und Frauen gleichermaßen betroffen?

Männer und Frauen. Wegen israelischer feindlicher Übergriffe haben wir viele Fälle von Angst, besonders bei Kindern. Kurzum: Wir leben in einem Katastrophengebiet der seelischen Verfassung.

Haben Sie Erhebungen, wieviel Menschen im Gaza-Streifen traumatisiert sind?

Laut einem Bericht, den ich von Experten in Sachen seelischer Verfassung erhalten habe, sind 100 Prozent der Menschen in Gaza betroffen. Natürlich kommen 70 Prozent von ihnen mit ihrem Leben zurecht, sie sind gastfreundlich, sie sind nett, sie lächeln Ihnen zu, aber in ihrem Innern haben sie ein Problem. Nach Schätzungen und Studien leidet ein Drittel der Bevölkerung unter Problemen, die wir PTSD, posttraumatisches Streß-Syndrom, nennen. Diese Menschen haben mehr als acht Symptome.

Die da wären?

Diese Symptome reichen von Ängstlichkeit, Depression, Phobien, Verhaltensproblemen, Erinnerungen, Alpträumen bis zur Vermeidung. Menschen sagen beispielsweise: Ich mache einen Bogen um eine Straße, in der ich geschlagen wurde.

Solch ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung ist traumatisiert. Wie kann man da arbeiten?

Wir fangen unkonventionell an. Wir gehen zu den Menschen. Wir bilden Ärzte, Berater, Lehrer aus. Ärzte werden natürlich anders unterrichtet als Lehrer. Wir wollen Bewußtsein schaffen. Natürlich behandeln wir auch Menschen in unserer Klinik, wenn sie es brauchen. Aber eine Menge Arbeit geschieht draußen. Und wir müssen zugeben, obwohl wir einigen Einfluß auf die Kultur haben, daß die Umgebung derart traumatisierend ist, und zwar die ganze Zeit. Zum zweiten ist dieser Ort so überbevölkert. Und zum dritten haben wir nicht genug Personal. Will man helfen, dann braucht man eine Armee an Psychiatern und Psychologen. Wir brauchen mindestens 1500 Leute allein für Gaza. Alles, was wir haben, sind 100 Menschen.

Interview: Johannes Zang, Gaza-Stadt

* Aus: junge Welt, 9. Juni 2008


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