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"In Gaza fehlt es an allem"

Folgen israelischer Blockade: Lebensmittel und Medikamente sind knapp, Beschäftigte bekommen keine Gehälter. Gespräch mit Maged Abu Ramadan

Der Arzt Dr. Maged Abu Ramadan ist Bürgermeister von Gaza-Stadt



Wie würden Sie als Bürgermeister die momentane Situation in Gaza beschreiben, insbesondere nach den Sanktionen Israels, die Öl- und andere Warenlieferungen betreffen?

Die Lebensbedingungen sind katastrophal. Den Menschen in Gaza fehlt es an allem. Besonders knapp sind Nahrungsmittel. Allein der Preis für Mehl und Brot ist um das Dreifache gestiegen. Zahlreiche Alltagsprodukte sind auf den Märkten gar nicht mehr erhältlich. Bei vielen Familien sind die Lebensmittelvorräte zu Ende. Auch Medikamente werden knapper.
Das Baugewerbe ist nahezu völlig zum Erliegen gekommen. Das treibt die Arbeitslosenquote enorm in die Höhe, denn es war bisher der zweite große Arbeitgeber nach der Regierung.
Viele, die für ein paar Tage nach Gaza gekommen sind, um ihre Familien und Bekannten zu besuchen, können nun schon seit Wochen nicht mehr zurück nach Hause. Die Übergänge sind geschlossen. Manche haben dadurch sogar ihre Arbeit verloren. Studenten können ihre Universitäten nicht mehr erreichen und verpassen wichtige Vorlesungen und Seminare. Wohin man auch blickt: Gaza ist ein einziges Desaster. Jeder hier ist davon betroffen.

Wer ist schuld an dieser Situation?

Die Besatzung. Wenn es keine Besatzung gäbe, hätte auch niemand einen Grund, Raketen in israelische Gebiete zu feuern. Wir alle sollten uns das klarmachen: Die Besatzung muß endlich beendet werden; die Palästinenser brauchen einen eigenen Staat, der Seite an Seite mit Israel existiert und wirtschaftliche, kulturelle und andere Beziehungen pflegt. Als ausgebildeter Arzt kann ich Ihnen versichern: Es reicht nicht aus, einem Patienten Aspirin oder Paracetamol zu geben. Um wirklich zu heilen, muß man die Ursachen behandeln, nicht die Symptome.

Israel hat wiederholt versichert, trotz der Sanktionen die Nahrungsmittel- und Medikamentenlieferungen für die Bevölkerung in Gaza fortzuführen. Was wissen Sie darüber?

Es gibt nach wie vor solche Lieferungen, aber die reichen – sowohl was die Quantität als auch was die Qualität anbelangt – bei weitem nicht aus. Viele Waren, die wir dringend benötigen, werden nicht mitgeschickt.

Wer überwacht diese Lieferungen aus Israel, die UNO?

Was sie beinhalten und wann sie erfolgen, liegt gänzlich in der Hand Israels. Zwar versuchen das UN-Flüchtlingswerk UNRWA und der Rote Halbmond ihr möglichstes, damit die humanitären Lieferungen tatsächlich eintreffen und möglichst viele dieser dringend benötigten Güter die Kontrollübergänge passieren dürfen, aber es bleibt ein äußerst mühseliges Unterfangen. Denn das letzte Wort haben die Israelis. Sie entscheiden, was in den Gazastreifen hinein und was hinaus darf.

Die palästinensische Nachrichtenagentur Maan berichtete am Montag (5. November), daß Israel seine Treibstofflieferungen nach Gaza halbiert hat. Demnach lassen israelische Behörden täglich nur noch 47000 Liter Benzin statt der bisher 90000 Liter passieren; beim Dieselkraftstoff sind es 190000 Liter anstelle der gewöhnlich erlaubten Menge von 300000 Litern. Wie deutlich sind die Limitierungen bereits im Alltag zu spüren?

Die gesamte Bevölkerung leidet darunter. Solche Einschränkungen bedeuten nicht nur, daß der Verkehr stillsteht. Auch Wasserwerke, Fabriken, Krankenhäuser und viele andere Institutionen sind davon betroffen.

Was können Sie als Bürgermeister von Gaza in der jetzigen Lage tun? Welche Dienste kann die Stadtverwaltung für die notleidenden Menschen anbieten?

Im Grunde kann ich mich nur weiter darum bemühen, daß die städtischen Dienste wie die Müllabfuhr, die Wasserver- und entsorgung etc. auch weiterhin geleistet werden. Aber das allein ist bereits ein großes Problem. Vielleicht haben Sie gehört, daß ein Großteil unserer Angestellten streikt, da sie seit acht Monaten keine Gehälter bekommen haben. Wir bemühen uns nach Kräften, alles zu tun, um die Auszahlungen sicherzustellen, aber wir können das nur sehr bedingt. Denn 80 Prozent dieser Gehälter generieren sich aus den Beiträgen und Gebühren der Bürgerinnen und Bürger. Doch in den vergangenen zwei Jahren mußten die ihren Gürtel immer enger schnallen, und heute sind ihre Taschen leer. Die Schulden Gazas belaufen sich inzwischen auf mehr als 40 Millionen US-Dollar –während unser städtisches Jahresbudget nur etwa bei 15 bis 17 Millionen Dollar liegt. Ohne Einnahmen stehen wir nun vor dem Problem, die städtischen Dienste aufrechtzuerhalten und die Angestellten für ihre Arbeit zu entlohnen. Wie soll das gehen? Unsere Mitarbeiter vollbringen derzeit Heldenhaftes.

Kommen die Menschen auch persönlich zu Ihnen und fragen nach Hilfe?

Täglich kommen Hunderte und bitten um Unterstützung. Wir tun unser Möglichstes, aber unsere Ressourcen sind begrenzt. Wir können nicht jedem unter die Arme greifen, auch wenn wir es wollten. Viele benötigen beispielsweise Hilfe bei der Reparatur ihrer Häuser, wenn die durch die israelischen Militäreinsätze beschädigt wurden. Außerdem gibt es sehr viele Straßen, die bei solchen Einsätzen in großen Teilen zerstört wurden. Weitere Probleme sind allgemeine Wasserknappheit und eine schlechte Abwasserentsorgung. Und die Menschen brauchen Arbeit, um ihre Familien zu ernähren, aber wir können ihnen keine Jobs geben, weil wir ihnen keine Gehälter auszahlen können.

Welche Erwartungen haben Sie an den bevorstehenden Nahostgipfel im US-amerikanischen Annapolis?

Ich persönlich halte den Gipfel für enorm wichtig, denn er ist das einzige Licht, das sich am Ende eines sehr langen und sehr dunklen Tunnels zeigt. Sollte dieses kleine Licht gelöscht werden, dann, fürchte ich, werden Extremismus und Gewalt die zwangsläufige Alternative sein.

Interview: Andrea Bistrich

* Aus: junge Welt, 8. November 2007


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