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Der schwierige Alltag der Palästinenser im Gazastreifen

In der Beschreibung der israelischen Journalistin Amira Hass

Beim folgenden Beitrag handelt es sich um eine Buchrezension. Besprochen wird das Buch einer israelischen Journalistin, die einige Jahre im Gazastreifen unter Palästinensern lebte und deren Lebens- und Denkweise kennen- und schätzen gelernt hat. Die Rezension erschien in der Neuen Zürcher Zeitung.

Amira Hass: Drinking the sea at Gaza, days and nights in a land under siege.
Henry Holt and Co., New York 1999.


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Die israelische Journalistin Amira Hass stammt aus einer jüdischen Familie mit Wurzeln in Sarajewo. Ihr Vater und ihre Mutter haben deutsche Konzentrationslager überlebt. Die Tochter wuchs daher in einem Milieu auf, das mehr mit Unterdrückten sympathisierte als mit Unterdrückern. Wie die Autorin im Vorwort ihres Buches über den Gazastreifen erklärt, ist dies der tiefere Grund dafür, dass sie zwischen 1993 und 1997 in Gaza unter den Palästinensern lebte und als Korrespondentin der Zeitung «Haaretz» die dortigen Bewohner und ihre Lage beschrieb. Es gab auch einen oberflächlicheren Grund. Die Journalistin schätzte die Wärme und Herzlichkeit, mit der die Bewohner des Gazastreifens und später die Palästinenser in Cisjordanien, wo sie gegenwärtig lebt und arbeitet, Fremde aufnehmen, die ihnen Sympathie und Verständnis entgegenbringen. An dieser Bereitschaft ändert sich auch dann nichts, wenn sich herausstellt, dass Fremde hebräisch sprechen und jüdischen Glaubens sind.

Wachsendes Elend

Die Jahre im Gazastreifen haben die Autorin offensichtlich derart geprägt, dass dabei ein ausgezeichnetes Porträt der Flüchtlinge und der Einheimischen entstanden ist. Das Leben und Fühlen der Bewohner und die einengenden Bedingungen ihres täglichen Lebens werden sehr einfühlsam beschrieben - für uns die bisher beste Reportage dieses Genres. Das Buch ist reich an Beschreibungen von Treffen mit Menschen, im- mer in ihrer spezifischen Einmaligkeit. Es wird auch klar, was die israelische Besetzung und die Zustände unter der sogenannten Autonomie für die Bewohner des Streifens bedeuten. Zahlen und Statistiken sowie genaue Darstellungen der bürokratischen Prozeduren, auf deren Erfüllung die israelischen Behörden eisern bestehen, fehlen nicht. Doch die Stärke des Buches liegt in den detaillierten Beschreibungen, in denen deutlich wird, was derartige Zahlen und Vorschriften für das Leben der betroffenen Individuen bedeuten.

Amira Hass' Schilderungen widersprechen in weiten Teilen dem Bild, das während der letzten Jahre über den Gazastreifen verbreitet worden ist. So geht aus ihnen eindeutig hervor, dass das Leben für die grosse Masse der auf dem winzigen Landstreifen zusammengedrängten Menschen - einer Million - deutlich härter und schwieriger geworden ist, seit der sogenannte Friedensprozess 1993 begonnen hatte. Israel hatte seit 1967 die Abhängigkeit der Bewohner Gazas von der israelischen Wirtschaft bewusst gefördert; die billigen Arbeitskräfte waren in Israel willkommen, und gewisse Arbeiten für die israelische Textilindustrie wurden in den Gazastreifen verlegt. Doch seit dem Oslo-Prozess kam es in zunehmendem Mass zu periodischen Schliessungen der Grenze nach Unruhen oder auch wenn solche nur befürchtet wurden. Und Terrorakte häuften sich. Während der letzten Jahre waren die Grenzübergänge während weit über 100 Arbeitstagen geschlossen. Die winzigen Ansätze eines Auflebens der Wirtschaft wurden damit zunichte gemacht.

Erinnerungen an die alte Heimat

Amira Hass schildert auch, wie viele der heutigen Bewohner des Gazastreifens sogar 50 Jahre nach der Vertreibung ihrer Vorfahren noch sehr genau wissen, aus welchem Dorf im ehemaligen Palästina sie stammen. Sie können beschreiben, wie ihre Heimat aussah und wer ihre Nachbarn waren, obwohl ihre Dörfer und Höfe von der Landkarte gänzlich verschwunden sind. Die Autorin hat die alte Karte auf Grund der Berichte rekonstruiert. Die Leser erfahren weiter, was es bedeutet, in einem Lager oder Gefängnis der Besatzungsmacht interniert zu werden, wie es vielen Tausenden von Palästinensern aus Gaza mit oder ohne Begründung geschehen ist. Erstaunlich ist immer wieder die Fähigkeit der örtlichen Bevölkerung, trotz allen Härten und Grausamkeiten, die manchmal auch von der Regierung Arafats ausgehen, weiterzuleben, ohne in Apathie zu verfallen. Im Überlebenskampf zentral sind die Frauen. Sie halten die Familien zusammen, oft durch gewaltige, beinahe übermenschliche Anstrengungen. - Diese reiche Enzyklopädie des Lebens in Gaza ist eine höchst empfehlenswerte Lektüre. Es wird dabei auch verständlich, warum die jüngste Intifada, die dem Friedensprozess ein vorläufiges Ende bereitete, ausbrechen musste.

Arnold Hottinger

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 20. Februar 2001

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