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Ein Blick von innen zur palästinensischen Einheitsvereinbarung

von Mustafa Barghouthi (Ramallah) *


Am 03./04. Mai unterzeichneten unter ägyptischer Vermittlung „Fatah” und „Hamas“ in Kairo eine Vereinbarung. Danach planen beide Parteien die Bildung einer politisch unabhängigen Übergangsregierung, Parlamentswahlen in der Westbank und im Gazastreifen im September und danach Präsidentschaftswahlen.

An den Verhandlungen, die der Vereinbarung vorausgingen, war der Vorsitzende der „Palestinian National Initiative“ Dr. Mustafa Barghouthi beteiligt, der bei den Präsidentschaftswahlen 2005 als politischer Rivale von Machmud Abbas auftrat. Barghouthi gehörte zu den Persönlichkeiten, die am 06. April in den Auswärtigen Ausschuss des Bundstages eingeladen waren [1].

Von Kairo aus gewährte Barghouthi am 06. Mai dem „Middle East Channel“ ein Interview, das wir ins Deutsche übersetzt haben.


Frage: Warum ist das [die Unterzeichnung der Vereinbarung] jetzt geschehen? Daran ist schließlich jahrelang gearbeitet worden – was war der aktuelle Moment, der zu dieser Vereinbarung führte?

Barghouthi: Es gab mehrere Faktoren. Ein wesentlicher Faktor war meines Erachtens das Ausmaß der wachsenden Frustration unter allen Palästinensern über die interne Spaltung – das war teilweise eine Ausstrahlung der arabischen Revolutionen in Palästina. Es war der Beginn der Demonstrationen Ende Januar und Anfang Februar, [die] das Ende der Teilung forderten. Die Menschen waren klug und reif genug zu erkennen, dass wir keine dritte Spaltung brauchen zusätzlich zu den beiden [die territoriale Trennung zwischen der Westbank und dem Gazastreifen sowie der politische Streit zwischen „Fatah“ und „Hamas“], sondern Druck [nötig ist], die bestehende Teilung zu beenden. Dieser öffentliche Druck war extrem wichtig. „Fatah“ und „Hamas“ haben erkannt, dass sie dabei sind, die Unterstützung der Bevölkerung zu verlieren.

Ein zweiter Faktor ist das Scheitern des Friedensprozesses und insbesondere Israels Sturheit. Es ist Abbas klar geworden, dass mit Netanyahu nichts vorangeht. Deshalb ist die einzige Chance die, die Lage im Sinne des eigenen palästinensischen Machtzuwachses durch die Änderung der Faktoren zu verändern. Abbas tat alles in seiner Macht Stehende, Netanyahu zu überzeugen, einen sinnvollen Friedensprozess fortzusetzen. Aber schließlich wurde klar, dass Israel kein Interesse an einem echten Fortschritt hat. Außerdem nutzte Israel die innerpalästinensische Spaltung als Ausrede für den Mangel an Beweglichkeit und behauptete, dass es keinen palästinensischen Führer gäbe, der alle Palästinenser vertreten könne.

Ein dritter Faktor waren schließlich die Veränderungen in der Region. Ich denke, dass die Position Ägyptens positiver, proaktiver geworden ist. Zunächst haben sie uns ermutigt, uns intern zu verständigen, und durch unsere eigenen internen palästinensischen Vermittlungsbemühungen haben wir viel erreicht. Dann waren die Ägypter in der Lage, erneut in die Offensive zu gehen, und es dauerte nur drei oder vier Stunden in einer Sitzung, bis „Fatah“ und „Hamas“ zu einer Verständigung gelangten. Die Ägypter wurden weniger für Druck von außen anfällig, der gegen die Einheit war, und legten Belastbarkeit und Zielstrebigkeit an den Tag – ein Spiegelbild des Wandels in der ägyptischen Politik im Allgemeinen.

Ein weiterer wichtiger Faktor: Wir haben als Palästinenser erkannt, dass wir unsere eigene Rolle und unsere Zwangslage neu bewerten müssen, und um das zu tun, mussten wir die Machtbalance ansprechen – der erste und entscheidende Schritt ist die Schaffung der inneren Einheit. Dies ist unsere objektive Einschätzung nach dem Scheitern des Friedensprozesses. Die beiden palästinensischen Seiten haben keine große Differenzen, was die Ziele angeht: eine Zwei- Staaten-Lösung, und praktisch sind beide Seiten bereit, dem gewaltfreien Widerstand zuzustimmen. Es gibt jetzt mehr Vertrauen in diese Form des Kampfes. Dies ist zum ersten Mal eine Gelegenheit, für das Potential einer einheitlichen palästinensischen Führung zu sorgen, und das ist nach meiner Auffassung die beste Gelegenheit für einen echten und dauerhaften Frieden.

Frage: Es hat in der Vergangenheit [mehrere] Vereinbarungen [mit dem Ziel der] Einheit gegeben, die gescheitert sind und die sich verhedderten. Was sind die Haupthindernisse dieser neuen Vereinbarung Abkommen, die bewältigt werden müssen?

Barghouthi: Das Hauptproblem sind die israelische Verweigerung und israelische Bemühungen, die Welt gegen sie [die Vereinbarung] zu mobilisieren. Israel tat dies 2007, als es die damalige nationale Einheitsvereinbarung und die palästinensische Demokratie erstickte. Es versucht wieder, dies zu tun in dem Bemühen, die internationale Gemeinschaft zu mobilisieren. Es gibt natürlich schwierige Details, die erledigt werden müssen wie die Bildung der Regierung und der internen Führung der PLO, doch ich glaube, dass israelische Aktionen und Bemühungen der Mobilisierung das größte Risiko darstellen.

Eine besonders bösartige und aufschlussreiche israelische Reaktion kam vom israelischen Außenminister Avigdor Lieberman, der unverblümt gesagt hat – weil er nicht diplomatisch sprechen kann –, dass Israel Palästinenser vorziehe, die gespalten bleiben, weil das sie schwach hält, und wenn sie vereint sind, stärker werden. Das ist das Wesen der israelischen Position. Wenn Israel wirklich eine Zwei-Staaten- Option sehen wollte – und in den Ansprachen haben Präsident Mahmud Abbas und „Hamas“-Führer Khaled Meshal bei der Unterzeichnungszeremonie die [Idee der] zwei Staaten kategorisch unterstützt –, dann ist dies die beste Gelegenheit, eine Vereinbarung mit allen Palästinensern zu treffen, statt einem Teil der Palästinenser etwas aufzuzwingen. Dies ist eine riesige Chance für den Frieden, aber was wir leider von der Seite Israels hören, sind ein Reden über die Vergangenheit und der Fehlschlag, das Potential für die Zukunft zu sehen.

Aber lassen Sie mich einen weiteren Punkt betonen: Diese Vereinbarung bringt nicht nur die palästinensische Einheit zurück, es bringt die Demokratie zurück, die verlorenging; es geht um die Gewaltenteilung, die verschwunden ist; es geht um die Re-Vitalisierung des palästinensischen Parlaments und des Palästinensischen Gesetzgebenden Rates [2]; und es geht darum, das Recht der Menschen wiederherzustellen, ihre Führungen frei und demokratisch zu wählen. Diejenigen, die gegen diese Vereinbarung sind, müssen ihren Aufruf für die Demokratie in Libyen und Syrien sowie für die Region, aber nicht für Palästina rechtfertigen.

Frage: Angesichts der Reaktion der israelischen Regierung [und] bisher eine vorsichtige Antwort des Obama-Administration und eine negative vom US-Kongress, und angesichts der Tatsache, dass eine Einheitsregierung nicht offen auf die drei Bedingungen des [Nahost- ]Quartetts eingeht [3] –: Warum sollte dies der Sache des Friedens nützen?

Barghouthi: Zunächst einmal sollten die Vereinigten Staaten vorsichtig sein, nicht dieselben Fehler wie 2007 zu wiederholen. Die USA sollten ihre eigene unabhängige Stellung beziehen – keine israelische Position. [Die USA] sollten vorsichtig sein, dem israelischen Ratschlag zu folgen – dieser Ratschlag ist so konzipiert, dass Netanyahu eine Rechtfertigung daraus herleiten kann, keinen Frieden zu machen und die Siedlungspolitik fortzusetzen. Ich würde einen sorgfältigeren US-Ansatz empfehlen, der auch auf das Potential dieser Vereinbarung schaut. Jenes Potential schließt den Wiederaufbau von Gaza und auch den Aufbau von Institutionen in Gaza ein und konsolidiert, was in der Westbank bereits aufgebaut worden ist. Die Alternative ist die Spaltung [der Palästinenser], die unumkehrbar werden und solche Lösungen in Zukunft ausschließen könnte.

Beachten Sie außerdem, dass dieses Abkommen für die Schaffung einer Regierung sorgt, die weder „Hamas“ noch „Fatah“ einschließt. Es gibt eine Verständigung darüber – und das wurde in der Vereinbarung und in den Reden deutlich –, dass Herr Abbas jetzt von allen Palästinensern einschließlich von „Hamas“ autorisiert ist, die Verhandlungen fortzusetzen. Abbas hat keine Änderungen an den Parametern vorgenommen, die die PLO früher akzeptiert hat, einschließlich der Anerkennung Israels. Es gibt nur einen Unterschied: dass er jetzt von allen autorisiert ist – und nicht nur von „Fatah“. Die palästinensische Regierung [in Ramallah] selbst wird nichts mit den Verhandlungen zu tun haben. Sie wird sich mit der inneren Situation beschäftigen und mit der Vorbereitung der Wahlen. Die PLO wird weiterhin für die Verhandlungen verantwortlich sein – mit Abbas an ihrer Spitze.

Es wird nun auch eine größere Aussicht für die Aufrechterhaltung einer breiteren Waffenruhe geben – nicht nur in Gaza – und der Verzicht auf Gewalt überall, einschließlich in der Westbank. Der beste Weg, die israelische Ablehnung und die Opposition der internationalen Gemeinschaft zu überwinden, ist die Annahme dieser Vereinbarung, die Anerkennung des Rechts der Palästinenser auf demokratische Reformen und dann eine neue Regierung zu akzeptieren und mit ihr zusammenzuarbeiten.

Frage: Ist „Hamas“ durch diese Vereinbarung nun Teil der PLO geworden?

Barghouthi: „Hamas“ ist jetzt Teil der PLO wie alle Gruppen auch außerhalb der PLO, die jetzt diese Vereinbarung unterzeichnet haben, einschließlich meiner Bewegung, der „Palästinensischen Nationalen Initiative“. Das bedeutet jetzt, dass es eine interimistische Führung geben wird, die nicht die gegenwärtige Rolle des „Geschäftsführenden Ausschusses“ der PLO negiert und die Verpflichtungen der PLO nicht verändert. Die neue Übergangsstruktur wird freie, demokratische Wahlen zum „Palästinensischen Nationalrat“ der PLO vorbereiten, zu dem es keine Wahlen seit 25 Jahren gegeben hat. Das stärkt praktisch die PLO und ihre Fähigkeit, die Vertretung [nach innen und nach außen] wahrzunehmen, ohne bestehende Verpflichtungen zu beeinträchtigen, und es öffnet das Tor für die künftige demokratische Teilhabe.

Frage: Wie passt sich die Vereinbarung in die Möglichkeit der PLO ein, im September zur UNO zu gehen, um für Palästina die international Anerkennung als Staat zu erreichen?

Barghouthi: Ich denke, dass [der Gang nach New York] dieses Vorhaben stärken wird. Das israelische Verhalten hat uns mehr denn je entschlossen gemacht, diesen Weg zu verfolgen. [Die] Palästinenser können jetzt der internationalen Gemeinschaft eine gemeinsame Front präsentieren und um die Anerkennung eines palästinensischen Staates einschließlich des Endes der Besatzung nachsuchen.

Frage: Einige haben die Möglichkeit angesprochen, dass die USRegierung wegen dieser Vereinbarung die Finanzierung der Palästinensischen Autonomiebehörde einstellt. Wie sehen Sie diese Aussicht, und welche Konsequenzen würde diese [Entscheidung] Ihrer Meinung nach für die Palästinenser haben?

Barghouthi: Ich hoffe, dass dies nicht geschieht, aber wenn es geschieht, werden wir damit fertig werden. Das Wichtigste ist, dass die USA nicht damit beginnen, sich aktiv an Sanktionsaktivitäten zu engagieren, oder versuchen, auf andere Regierungen wie 2007 zwecks Beteiligung an Sanktionen gegen die Palästinenser Druck auszuüben. Es gibt eine Chance – einen palästinensischen Konsens zur Zwei-Staaten-Lösung und eine Bereitschaft, auf Gewalt zu verzichten. Dies ist die Botschaft: Die Palästinenser sind bereit zum Frieden. Auf der anderen Seite gibt es ein Risiko. Wenn Israel Druck auf die Autonomiebehörde vorzieht – und die USA für Israel Partei ergreifen und sie außerdem die internationale Gemeinschaft unter Druck setzen –, dann bedeutet das eine einfache Sache: Es wird zum totalen Zusammenbruch der Autonomiebehörde und zum totalen Zusammenbruch des gesamten Projekts führen. Sie haben die Wahl. Die Chance, die zum Frieden führt, das Risiko, das zu einer Katastrophe führt.

Frage: Was passiert mit den palästinensischen Sicherheitskräften? Behält „Hamas“ eine separate Miliz?

Barghouthi: Wir waren uns darin einig, dass in der ersten Runde alles so bleiben wird, wie es ist – der Status quo wird sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen aufrechterhalten. So werden Arrangements bleiben [wie sie sind], und dann werden wir allmählich beginnen, und mit dieser Frage nach der Bildung der Regierung zu beschäftigen. Wir werden dann einen Überwachungsausschuss mit Fachkräften schaffen, der sich schrittweise mit der Zusammenführung und mit der Entzerrung des Sicherheitsapparats befasst. Wenn wir Wahlen haben, sollten wir bereit sein, dass die gewählten Gremien diesen Kräften Autorität verleihen.

Frage: Es ist behauptet worden, das die PLO mit dieser Vereinbarung die Charta von „Hamas“ übernommen habe. Was ist Ihre Antwort auf dieses Argument?

Barghouthi: Entschuldigen Sie meine Sprache, aber das ist totaler BS [„bullshit“]. Passiert ist, dass „Hamas“ die PLOCharta übernommen hat. Wenn Sie die Rede Khaled Meshals lesen, akzeptiert „Hamas“ die Charta [der PLO] durch die Akzeptanz der Zwei-Staaten-Lösung, ganz unverblümt und klar. Er sagte: '67er Grenzen, Jerusalem als Hauptstadt, souveräner Staat, demokratischer Staat, dass sie die Demokratie akzeptieren und die Ergebnisse der Wahlen, so wie sie sind. Was wollen sie mehr? Die Menschen sollten vorsichtig sein, Netanyahus Propaganda zu kaufen – sie ist rückwärtsgewandt, irreführend und falsch.

Reiner Bernstein
München, 09. Mai 2011

Anmerkungen
  1. Dazu mein Bericht „Nahost im Bundestag. Bemerkungen zur Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 06. April 2011“ in der Menüleiste „Berichte aus Nahost“ dieser Homepage.
  2. Anmerkung des Übersetzers: Das von Barghouthi angesprochene Parlament und der „Palestinian Legislative Council“ sind identisch.
  3. „Anerkennung Israels“, „Zustimmung zu den bisherigen Vereinbarungen“ und „Verzicht auf Gewalt“.
* Quelle: Website der "Genfer Initiative"; www.reiner-bernstein.de

Hier geht es zum Dokument:

Text of the Agreement between Fatah und Hamas
Die Vereinbarung zwischen Fatah und Hamas im Wortlaut (englisch) (Mai 2011)




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