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Mut im Angesicht des Feindes

"Ich bleibe, bis diese Besetzung endet" - Ein Bericht über Dschenin

Am 27. November erschien im britischen "The Guardian" ein Artikel von Katie Barlow: "Real lives - Courage under fire". Ulrike Vestring hat den Text ins Deutsche übersetzt und uns zur Verfügung gestellt.


Fast ein Jahr lang hat sich Caoimhe Butterly israelischen Panzern und Truppen in Jenin in den Weg gestellt. Ende November wurde sie von einem Soldaten angeschossen. Trotzdem will sie bleiben, sagte sie Katie Barlow von der britischen Zeitung The Guardian.

Vergangenen Freitag wurde Ian Hook, ein britischer UN-Freiwilliger, in Jenin erschossen. Angeschossen wurde auch Caoimhe Butterly, aber sie hat überlebt. Im Oktober habe ich Caoimhe für einen Dokumentarfilm zwei Wochen lang gefilmt. Ich wollte sie kennenlernen, seit ich auf Bildern gesehen hatte, wie sie Panzern der israelischen Armee, die über ihren Kopf hinweg feuerten, den Weg versperrte. Auch hatte ich gehört, sie habe sich zwischen Soldaten und palästinensische Kinder in die Schusslinie gestellt, worauf die Armee drohte, "eine Heldin aus ihr zu machen".

Ich war am 28. September in Jenin angekommen. Wir trafen uns im Haus der Familie, bei der sie wohnte, und hatten einander kaum begrüßt, als wir draußen drei Schüsse hörten. Caoimhe lief sofort aus der Eingangstür, um zu sehen, was los war, und ich folgte ihr in die Dunkelheit. Plötzlich war ich von mindestens fünfzehn jungen Bewaffneten umgeben, die mit uns liefen. Israelische Scharfschützen, hieß es, schossen aus einem besetzten Haus weiter unten an der Straße.

Während die Jungen in Deckung gingen, rannte Caoimhe direkt zum Ort des Geschehens. (Mit ihrer Größe von zwei Meter fünf und flammend rotem Haar ist sie in Jenin eine ziemlich auffallende Erscheinung). Ein behinderter palästinensischer Junge war von einem Armee-Scharfschützen von seinem Fahrrad heruntergeschossen worden. Caoimhe lief direkt zu ihm hin, obwohl der Beschuss weiterging, und kümmerte sich um die klaffende Wunde auf seinem Rücken. Minuten später war der Krankenwagen des Roten Halbmonds zur Stelle, und unter fortdauerndem Beschuss hoben die Rettungssanitäter den Jungen ins Fahrzeug. Es gelang den Scharfschützen, durch ein Fenster ins Innere des Krankenwagens zu feuern, wobei der verletzte Junge von Glassplittern bedeckt und ein mit Aufnahmen beschäftigter lokaler Film-reporter beinah tödlich getroffen wurde. Später erfuhren wir im Krankenhaus, der Junge würde überleben, aber von der Taille an abwärts gelähmt bleiben. Das, meinte Caoimhe, sei der Alltag in Jenin.

Die Umgebung, in der Caoimhe aufwuchs, war geprägt von der Befreiungstheologie, und das, sagt sie, hat sie dazu gebracht, den Einsatz für Menschenrechte zu ihrem Lebensinhalt zu machen. Ihr Vater war Wirtschaftsexperte bei den Vereinten Nationen, und so zog die Familie von Irland nach Zimbabwe, als Caoimhe ein kleines Kind war. Schon in ganz jungem Alter, sagt sie, sei sie sehr pflichtbewusst gewesen. "Ich habe immer in fast schmerzlicher Weise das Bedürfnis gefühlt, gegen Ungerechtigkeit aufzustehen, wo immer ich sie sah." Mit achtzehn verließ sie die Schule und ging auf Reisen. Ihr erstes Ziel war New York, wo sie mehrere Monate in der Suppenküche einer irisch- katholischen Arbeiterorganisation arbeitete. Dann ging es weiter nach Guatemala und ins mexikanische Chiapas. Dort lebte und arbeitete sie zwei Jahre in separatistischen Zapatista-Kommunen.

Voriges Jahr kehrte sie nach Irland zurück. Mit einem zehntägigen Hungerstreik vor dem Außenministerium in Dublin protestierte sie gegen die Entscheidung ihrer Regierung, amerikanischen Militärflugzeugen auf dem Weg nach Afghanistan den Flughafen von Shannon zum Auftanken zur Verfügung zu stellen. Später wurde sie verhaftet, als sie versuchte, eine Landebahn zu blockieren. Nach dem 11. September reiste sie in den Irak und schloss sich einer Gruppe an, die gegen die Sanktionen aktiv war. Vor knapp einem Jahr kam sie nach Palästina und lebt seitdem überwiegend in Jenin.

Im April erregte sie internationales Aufsehen, als sie sich in Ramallah in Arafats Hauptquartier schmuggelte, das damals von der israelischen Armee belagert wurde. Sie leistete einem palästinensischen Freund, der eine Schusswunde am Bein hatte, erste Hilfe, weil die Militärs ihm den Zugang zu den Krankenwagen des Roten Halbmonds verweigerten. Es gelang ihr schließlich, Hilfe für ihn zu organisieren, aber sie selbst saß in der Falle.

"Die israelische Armee hatte offiziell angekündigt, dass jeder internationale Helfer, der versuchen sollte, den Gebäudekomplex zu verlassen, sofort verhaftet und deportiert, wenn nicht sogar beschossen würde", berichtet Caoimhe. "Nach drei Tagen wurde mir klar, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Denn da erfuhren wir, dass die Panzer unterwegs nach Jenin waren. Ich blieb zwölf Tage in Ramallah eingesperrt, während die Nachrichten aus Jenin immer schlimmer wurden, und ich wusste, dass Freunde von mir dort verbluteten."

Als die Israelis versehentlich ein Tor in der Absperrung um Arafats Hauptquartier offen-ließen, konnte Caoimhe knapp entwischen; vorbei an Panzern und Soldaten rannte sie um ihr Leben. Als sie in Jenin ankam, ging die Belagerung zu Ende.

"Als erstes überfiel mich der Leichengeruch. Es waren noch Soldaten im Lager, aber viele Bewohner ignorierten einfach die Ausgangssperre, um ihre Toten zu begraben und Verwundete zu bergen. Ein Mann war aus der Nähe erschossen und dann von Panzern buchstäglich platt gefahren worden. Es gab kein Werkzeug, um die Toten aus den Trümmern zu bergen, und so versuchte auch ich, sie mit bloßen Händen auszugraben. Es gab kaum intakte Leichen, sondern verbrannte, zerbrochene Körperteile, der Zopf eines kleinen Mädchens und ein Babyfuß. Ich räumte Schutt beiseite und fand die Reste eines Kopfes. Ein kleines Mädchen hielt ihren Teddybär umschlungen. Sie war erstickt, als ihr Haus niedergewalzt wurde."

Nach diesen Erfahrungen war Caoimhe zunächst wie taub und so furchtlos, dass sie auf Panzer zuging, mitten in die Schusslinie; sie stellte sich Soldaten entgegen und ließ sich an Checkpoints verprügeln. Verbrechen, betont sie, seien an der Tagesordnung - in den zwei Wochen, die ich mit ihr verbrachte, wurden in der Tat neunzehn Zivilisten angeschossen, wobei sechs von ihnen starben. Sieben der Opfer waren Kinder auf dem Schulweg, die von Panzern mitten in der Stadt beschossen wurden. Ein Markthändler, der gerade seinen Gemüsestand aufbaute, wurde von einem wild um sich schießenden Panzer am Kopf getroffen.

Letzten Freitag hätte es sie beinah erwischt. Caoimhe bekam einen Schuss in den linken Oberschenkel, während sie zwischen einem israelischen Panzer und drei Jungen auf der Straße stand. Wenig später konnte ich mit ihr telefonieren. Von ihrem Krankenhausbett schilderte sie, wie sie versucht habe, die israelischen Sodaten, die bereits einen neunjährigen Jungen erschossen hatten, davon abzuhalten, weiter auf die Kinder zu schießen. Die Soldaten sagten ihr, sie solle aus dem Weg gehen oder sie würden auf sie schießen. Sie wurde getroffen, als sie gerade die Kinder aus der Schusslinie brachte. Sie ist sich sicher, dass es ein gezielter Schuss war: der Panzer war ganz nah, und der Soldat richtete seine Waffe auf sie und schoss, und er schoss auch noch, als sie auf allen Vieren in Deckung kroch.

Ich bat einen Sprecher der israelischen Armee um eine Erklärung. "Wir befinden uns im Krieg und können nicht verantwortlich gemacht werden für die Sicherheit von Personen, deren Anwesenheit in den besetzten Gebieten nicht mit der Armee abgesprochen wurde. Zwar wollen wir nicht, dass unschuldige Palästinenser leiden oder dass internationale Freiwillige verletzt werden, aber wir müssen für die Sicherheit der Israelis sorgen. Daher können wir nicht dulden, dass internationale Freiwillige unsere Operationen stören. Es ist nicht die Sache dieser Leute, in der Schusslinie zu stehen, es sei denn, sie wären Gottes Sohn - aber der ist noch nicht erschienen."

Derweil bemüht sich die palästinensische Autonomiebehörde weiterhin um die Entsendung internationaler Beobachter für die besetzten Gebiete. "Wir haben festgestellt, dass dort, wo internationale Freiwillige vor Ort die Unterdrückung beobachten, die Israelis sich etwas gemäßigter verhalten", sagt Afif Safieh, der palästinensische Vertreter in Großbritannien.

Caoimhe sagt mir, es gehe ihr gut. Zwar fehlt ihr ein Stück Oberschenkel, aber sie ist froh, dass die Kugel nicht stecken geblieben ist. Ihr Freund Ian Hook erlitt tragischerweise einen Bauchschuss und starb. Zuvor hatten beide mit der Armee verhandelt, um ein krankes Kind ins Krankenhaus zu bekommen, aber die Soldaten ließen den Krankenwagen nicht passieren. Auch zu dem schwer verletzten Ian Hook kam der Krankenwagen nicht durch.

Wird Caoimhe jetzt abreisen? "Ich reise nirgendwo hin. Ich bleibe, bis diese Besetzung endet. Ich habe das Recht hier zu sein, es ist meine Pflicht. Diese Pflicht hat jeder, der weiß, was hier los ist."

Übersetzung aus dem Englischen: Ulrike Vestring;
Original: "Real lives - Courage under fire", by Katie Barlow; The Guardian, November 27, 2002



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