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Er war ein Jongleur

Die drei Befreiungskämpfe des Yassir Arafat

Von Margret Johannsen*

Imposant ist die Liste der Ämter Yassir Arafats. In seiner Person vereinigen sich Geschichte und Gegenwart der palästinensischen Nationalbewegung in einzigartiger Weise. Er war seit 45 Jahren Chef der Fatah und wurde 1969 Vorsitzender der von der Arabischen Liga gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). 1996 wählten ihn die Palästinenser im Westjordanland und Gazastreifen zu ihrem Präsidenten. Doch Autorität bezog Arafat weniger aus all diesen Funktionen als vielmehr aus seiner Rolle als "Vater der palästinensischen Nation".

Unter seiner Führung wandte sich die PLO schrittweise von Terror und Gewalt ab und erwarb dafür im Gegenzug internationale Anerkennung. Sie beschloss 1974, dass auf jedem befreiten Stück Palästinas ein palästinensischer Staat errichtet werden könne, was sich als Vorspiel für eine Zweistaatlichkeit im historischen Palästina und faktische Anerkennung Israels begreifen ließ. Praktisch hieß das, einen palästinensischen Staat auf 22 Prozent des historischen Palästina zu errichten. Der Beschluss, von Arafat durchgesetzt, stieß auf den Widerspruch der radikalen Palästinenser. Nur Arafat, der politische Jongleur von Weltrang, hätte die eigene Bewegung vor dem Zerbrechen bewahren können.

Der Pragmatismus der PLO trug Früchte. Die UNO bekannte sich 1974 zum Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Teilhabe beim Aushandeln eines gerechten Friedens in der Region. Die PLO galt hinfort international als offizielle Vertretung der Palästinenser und erhielt bei der UNO Beobachterstatus. 1988 rief das palästinensische Exilparlament den Staat Palästina aus und erkannte zugleich die UN-Resolutionen 242 und 338 an - darin war das Existenzrecht aller Staaten des Nahen Ostens, also auch Israels, festgeschrieben. Die Zweistaatenlösung blieb fortan der Rahmen des palästinensischen Strebens nach Selbstbestimmung.

Die drei Befreiungskämpfe - gegen die Instrumentalisierung der palästinensischen Sache durch die arabischen Regimes, gegen die israelische Besatzung und für den historischen Kompromiss mit einem nicht länger auf Landnahme bedachten Israel - waren das Lebenswerk Arafats. Als er noch an den Schalthebeln der Macht saß, hatte er allen Grund zu behaupten, nur er könne die Unterschrift unter einen Friedensvertrag mit Israel setzen, der einen Jahrhundertkonflikt beendet.

Die Autorität des palästinensischen Führers, der nun Arafats Lebenswerk krönen will, wird sich aus anderen Quellen speisen müssen. Niemand der als Nachfolger gehandelten Personen verfügt über ein Maß an Rückhalt im Volke, das einen legitimen Anspruch auf eine Führung per Dekret begründen könnte. In jüngsten Umfragen führt mit 22 Prozent Marwan Barghouti, ein Mann aus der Intifada-Generation. Aber der Fatah-Führer des Westjordanlandes sitzt in einem israelischen Gefängnis eine lebenslängliche Strafe ab. Ministerpräsident Ahmed Kureia, dessen Vorgänger Mahmud Abbas sowie der frühere Sicherheitschef im Gazastreifen, Mohammad Dahlan, mögen Sympathien der USA genießen - ihre Popularitätswerte erreichen nicht einmal vier Prozent. Mehr als eine Übergangslösung verkörpern sie nicht.

Der Weg, auf dem eine neue Führung die nötige Legitimität erlangen kann, ist damit vorgezeichnet. Wahlen sind überfällig. Zwar war auch Arafat ein gewählter Präsident, noch dazu mit einer Mehrheit von 88 Prozent. Aber seine Macht beruhte auf dem Patronagesystem, das er wie kein anderer zu handhaben wusste. Sein Nachfolger wird eine moderne Quelle legitimer Machtausübung brauchen. In Zeiten, da den Führern Arabiens demokratische Reformen abverlangt werden, können das nur freie Wahlen sein.

Nur so kann eine künftige Führung legitimiert werden, um ein politisches Programm zu entwerfen, das den Palästinensern wieder Hoffnung auf Zukunft gibt, die Israelis überzeugt, dass sie auf palästinensischer Seite einen Verhandlungspartner finden, und Amerikaner und Europäer in die Pflicht nimmt, den Friedensprozess zu beleben. Nur eine demokratisch legitimierte Führung wird die Kraft haben, weiterhin zur Waffengewalt entschlossene Kämpfer zu mäßigen.

Allerdings sind Wahlen nur sinnvoll, wenn sich auch Israel von seiner Gewaltstrategie verabschiedet. Wollte Ariel Sharon an der bewaffneten Offensive gegen palästinensische Städte und den gezielten Tötungen festhalten, wären freie Wahlen unmöglich - statt dessen würden die radikalen Kräfte unter den Palästinensern gestärkt.

Ein Neuanfang wird nur aussichtsreich sein, werden moderate Islamisten in die politische Verantwortung einbezogen. Viel wäre gewonnen, wenn sich die Hamas an Wahlen beteiligt. Bisher haben die USA und Israel dies ausgeschlossen - als hätten sie über diese wahrhaft innere Angelegenheit der Palästinenser zu entscheiden. Ganz anders die Palästinenser. Eine überwältigende Mehrheit wünscht, dass Hamas nach Abzug der Israelis an der Verwaltung des Gazastreifens gleichberechtigt beteiligt wird und bei Wahlen kandidiert. Nicht einmal ein Viertel der Wahlbevölkerung würde ihnen ihre Stimme geben - dieses Zeichen der politischen Reife sollten Amerikaner und Israelis zur Kenntnis nehmen.

Auch Arafat, der 1994 gemeinsam mit Itzhak Rabin und Shimon Peres für den Versuch den "Frieden der Mutigen" zu schließen den Friedensnobelpreis erhielt, war einst mitverantwortlich für Terror. Der Wandel von Guerillaführern zu rechenschaftspflichtigen Politikern ist allemal ihrer völkerrechtswidrigen Liquidierung vorzuziehen. Hier bietet sich den Europäern, deren Finanzhilfe beim Wiederaufbau der Autonomiegebiete ohnehin gefordert ist, die Chance, diplomatisches Kapital zu investieren. Es würde beim Aufbau eines lebensfähigen, demokratischen Palästina reiche politische Rendite bringen.

* Magret Johannsen ist Wissenschaftlerin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH).
Der hier dokumentierte Beitrag erschien am 12. November in der Wochenzeitung "Freitag".



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