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Palästina will UN-Staat Nummer 194 werden

Widerstand von USA und Israel / Belastungstest für Berlin *

Von Oliver Eberhardt *

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat den Freitag (23. Sept.) als Termin für den palästinensischen Antrag auf UN-Vollmitgliedschaft bestätigt. Er informierte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Montag persönlich über seine Absicht. Der Generalsekretär habe seine Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung bekräftigt und auf eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern in einem »legitimen und ausgewogenen Rahmen« gedrungen. Indessen sind Kontroversen darüber in der heute (21. Sept.) beginnenden Generaldebatte der Vollversammlung abzusehen.

Mahmud Abbas macht ernst: Am Freitag, während seiner Rede in der Generaldebatte der 66. UNO-Vollversammlung, wird er die Vollmitgliedschaft Palästinas als 194. Staat in der Weltorganisation beantragen. Bis zur letzten Minute wird gerungen, um den Antrag selbst wie um seinen Inhalt. Die USA-Regierung versucht weiterhin zu verhindern, dass Abbas das Dokument einreicht. Der Weg zur palästinensischen Unabhängigkeit führe nicht über die Vereinten Nationen, hat Außenministerin Hillary Clinton bekräftigt. Präsident Barack Obama machte erneut deutlich, dass die USA ein Veto im Sicherheitsrat einlegen würden, sollten sich die Palästinenser um Vollmitgliedschaft bewerben. Palästina könne nur durch Verhandlungen geschaffen werden.

Die Chance, dass die Palästinenser in letzter Minute von ihrem Vorhaben ablassen, ist gering: Israel müsste dafür ein ausgesprochen reizvolles Kompromissangebot auf den Tisch legen, was aber wohl nicht geschehen wird. In den vergangenen Wochen hatte sich Abbas mehrmals hinter verschlossenen Türen mit Israels Präsident Schimon Peres getroffen, um Ansatzpunkte für neue Gespräche zu finden. Beide Seiten sagen, die Schnittmengen seien sehr gering gewesen.

Daraus schließt die palästinensische Führung, dass eine Rückkehr an den Verhandlungstisch sinnlos ist, solange in Israel Premierminister Benjamin Netanjahu und seine rechts-religiöse Koalition an der Macht sind. »Wir haben 20 Jahre lang die gleichen Dinge verhandelt, und unsere Unabhängigkeit dadurch immer wieder verschoben«, sagt der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat. »Nun schlagen wir das nächste Kapitel auf.«

Durch ihre UNO-Bestrebungen will die Palästinensische Autonomiebehörde (die Hamas-Regierung in Gaza lehnt diesen Schritt ab) vor allem zwei Dinge erreichen: Sie will Zugang zu internationalen Organisationen wie dem Internationalen Gerichtshof erlangen und selbst Resolutionsentwürfe einreichen können. Und sie will, dass die Vereinten Nationen Palästina als Staat bezeichnen. Erekat: »Dies macht sichtbar, was schon mehr als 120 Länder auf der Welt gesagt haben – dass wir ein Staat sind.«

Das sind auch die beiden Hauptgründe dafür, dass Israels Regierung so massiv gegen eine Aufwertung ist: »Wenn die Palästinenser bei der UNO als Staat geführt werden, dann bedeutet dies, dass das Westjordanland besetzt ist«, erläutert der Politologe Gabriel Scheffer von der Hebräischen Universität Jerusalem: »Nach Deutung der israelischen Rechten sind diese Gebiete aber völkerrechtlich umstritten und deshalb Verhandlungsmasse. Zudem müsste die Regierung eine Vielzahl von verurteilenden Resolutionen und Klagen in Den Haag befürchten.«

Umgerechnet rund 60 Millionen Euro, so hat es Staatskontrolleur Micha Lindenstrauss ausgerechnet, habe Israels Regierung seit Anfang des Jahres für ihre Kampagne gegen die palästinensischen UNO-Bestrebungen ausgegeben. Geflossen ist das Geld vor allem in PR-Feldzüge, aber auch in die Räume der im August eröffneten Botschaft Naurus in Israel, einer rund 10 000 Einwohner zählenden Inselrepublik im Südpazifik, die im Gegenzug Israel bei den Vereinten Nationen unterstützen will. Jede Stimme zählt, lautete die Vorgabe für die Kampagne, von der man hoffte, sie würde eine Koalition aus den USA, einem möglichst geschlossenen Europa und einzelnen ozeanischen und südamerikanischen Staaten gegen den palästinensischen Antrag schaffen.

Für Deutschland, gegenwärtig nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat, könnte der palästinensische Antrag zum Belastungstest werden. Berlin wird sich zur Zwei-Staaten-Lösung positionieren und sich entscheiden müssen – zwischen Palästina und Israel, aber vielleicht auch zwischen den wichtigsten europäischen Verbündeten und den USA. Während Deutschland auf eine Verhandlungslösung mit Israel pocht und einseitige Schritte ablehnt, ebenso wie Italien oder die Niederlande, zeigte Frankreich in der Vergangenheit durchaus Sympathien für das Ansinnen der Palästinenser. Spanien signalisierte bereits seine Zustimmung zu einer staatlichen Anerkennung durch die UNO.

Dabei gilt Deutschland wegen seiner besonderen Beziehungen zu Israel eher als Neinsager – zumal Bundeskanzlerin Angela Merkel »einseitige« Anerkennungen im Frühjahr schon einmal ausgeschlossen hatte. Allerdings lässt Berlin die Entscheidung im konkreten Fall noch offen. Wie viele andere hofft man darauf, dass sich doch noch irgendwie eine Lösung findet. »Wir werden in den kommenden Tagen alles versuchen, um eine Konfrontation in New York und eine Verschärfung der Lage vor Ort zu verhindern«, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle.

Wege in die UNO

Der klassische Weg: Aufnahme als Vollmitglied
Laut UN-Charta steht die Mitgliedschaft allen »friedliebenden Staaten« offen, die fähig und gewillt sind, den UN-Verpflichtungen nachzukommen. Das Aufnahmeverfahren ist klar geregelt: Zunächst müssen mindestens neun der 15 Mitglieder des Sicherheitsrats grünes Licht für einen entsprechenden Antrag geben, darunter die fünf Vetomächte USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien. Anschließend muss die Vollversammlung die Aufnahme mit einer Zweidrittelmehrheit billigen.

Die Alternative: Beobachterstatus als Nicht-Mitgliedsstaat
Anders als bei der Vollmitgliedschaft beruht der Beobachterstatus von Staaten allein auf der bisherigen Praxis der UNO. In der Charta finden sich dazu keine Bestimmungen. Die Variante geht zurück auf die Schweiz, die ab 1948 als Beobachter der UNO angehörte und erst seit 2002 Vollmitglied ist. Derzeit gehört nur noch ein Nicht-Mitgliedsstaat den Vereinten Nationen als ständiger Beobachter an – der Vatikan.

Die gegenwärtige Stellung der Palästinenser
Die Palästinenser verfügen seit der Anerkennung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) durch die UNO in den 70er Jahren nur über einen einfachen Beobachterstatus, vergleichbar mit jenem der internationalen Organisationen. Zwar erhielten sie 1998 zusätzliche Rechte, zum Beispiel das Rederecht bei der Generaldebatte, ohne jedoch mit souveränen Staaten gleichgestellt zu werden. Für eine Aufwertung des Beobachterstatus unterhalb der Stufe der Vollmitgliedschaft genügt die Zustimmung der Vollversammlung. Dadurch würden die Palästinenser unter anderem Zugang zur internationalen Gerichtsbarkeit erhalten.

(AFP/ND)



* Aus: Neues Deutschland, 21. September 2011


Deutschland bremst bei Konfliktlösung

Europapolitiker Helmut Scholz zur EU-Position gegenüber dem palästinensischen Antrag **


Helmut Scholz, Europaabgeordneter der LINKEN, hat in den vergangenen Monaten mehrfach den Nahen Osten und die palästinensischen Gebiete bereist. Er gehört zu den Unterzeichnern des von früheren europäischen Staats- und Regierungschefs initiierten Appells zur Unterstützung des palästinensischen Antrags zur Aufnahme als Vollmitglied in die UNO. Darin heißt es, dass »Europa keinen Grund hat, diese legitime Forderung der Palästinenser abzulehnen«.


Wie stellt sich das Europäische Parlament zum Antrag der Palästinenser auf Vollmitgliedschaft in der UNO?

Wie in allen EU-Mitgliedsstaaten gibt es auch im Europäischen Parlament dazu unterschiedliche Ansichten. Soweit ich das abschätzen kann, werden viele Abgeordnete quer durch alle Fraktionen – und natürlich auch die Delegation der LINKEN – sich für eine aktive EU-Position zur Unterstützung des Vorhabens aussprechen. Es gibt aber in dieser Frage bislang keine gemeinsame Resolution des Parlaments.

Sie kennen die dramatische Lage in den palästinensischen Gebieten aus eigenem Erleben. An dieser Situation wird sich mit dem Antrag nichts ändern.

Der Antrag hat natürlich vor allem symbolische Bedeutung. Er politisiert die weltweit von vielen maßgeblichen politischen Kräften unterstützte Zwei-Staaten-Lösung, die eine friedliche, dauerhafte Koexistenz zweier lebensfähiger Staatswesen sichern kann und muss. Letztlich wird damit eine neue, aktive Verhandlungsposition der Palästinenser gegenüber Israel ermöglicht. Zugleich sollte die israelische Führung begreifen, dass die Palästinenser ihre engsten Verbündeten für eine soziale, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Entwicklung in der Region sind. Wie die jüngsten Proteste gezeigt haben, sind gerade die jungen Menschen auch in Israel der alten Politik von Mauern, Ausgrenzung und Gewalt überdrüssig. Diese Wiedergewinnung gemeinsamer Zukunftsperspektiven kann mit dem Antrag der Palästinenser auf Aufnahme in die UNO als Vollmitglied durchaus forciert werden.

Israel hat aber bereits erklärt, dass sich der palästinensische Antrag in der UNO negativ auf die Friedensverhandlungen auswirken wird.

Praktisch gibt es doch keinen Friedensprozess. Im Gegenteil: Dieser wird unter anderem verhindert, weil die Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes ignoriert. Und dies ist auch eine der Ursachen für die andauernde Gewalt. Der gemeinsame Appell von Politikern aus verschiedenen europäischen Ländern betont, dass der Antrag der Palästinenser auf Vollmitgliedschaft in der UNO ein Schritt zu einer Friedenslösung und nicht von ihr weg ist.

Eine solche Lösung ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Umbrüche in nordafrikanischen Staaten notwendig: Ohne Lösung des Nahostproblems kann der »arabische Frühling« nicht von Dauer sein, können die demokratischen Bestrebungen der Menschen in der Region auf Selbstbestimmung in andere Richtungen gedrängt werden.

Zumindest in jüngster Zeit macht sich die europäische Seite stark für demokratische Veränderungen in Nordafrika, im Nahen Osten ist das Engagement dagegen sehr beschränkt. Kuscht die EU vor Israel?

Man könnte sagen, die EU kuscht. Aber wer ist denn »die EU«? Obwohl die Europäische Union die Standarte einer gemeinsamen Außenpolitik vor sich herträgt, hat sie eine solche eben nicht. Der internationale Kurs ist immer das Ergebnis der Abstimmung zwischen den Mitgliedsstaaten.

Bei der Haltung zum Nahostkonflikt verweigert sich nicht zuletzt Deutschland einem gemeinsamen Ansatz. Damit liegen Merkel und Westerwelle auf einer Linie mit US-Präsident Obama, der im Gegensatz zu seinen Ankündigungen vor zwei Jahren in Kairo nun auch auf die Bremse tritt. Aber gerade als derzeitiges nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist Deutschland mit seiner sich aus der Vergangenheit ergebenden Verantwortung gegenüber Israel gefordert, einen konstruktiven, positiven Beitrag zur Unterstützung des palästinensischen Antrags zu leisten.

Fragen: Uwe Sattler

** Aus: Neues Deutschland, 21. September 2011


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