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Geplante Ausrufung eines Palästinenser-Staates – Weichenstellung für Neubeginn oder Eskalation des Nahost-Konflikts?

Interview mit Dr. Margret Johannsen, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg IFSH *

Andreas Flocken (Moderator):
In diesem Monat kommt in New York die UN-Generalversammlung zusammen. So wie es aussieht wird Palästinenserpräsident Abbas den mehr als 190 Mitgliedsstaaten einen Antrag auf Anerkennung und Aufnahme eines Palästinenser-Staates vorlegen. Doch diese Initiative ist umstritten und entzweit die Staatengemeinschaft.

Hierüber habe ich mit der Nahost-Expertin Margret Johannsen vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik gesprochen. Ich habe Margret Johannsen zunächst gefragt, ob sie glaubt, dass dieser Antrag erfolgreich sein wird:


Interview Flocken / Dr. Johannsen

Johannsen: Der Antrag in der Vollversammlung kann eine Mehrheit bekommen, aber auf diesem Wege würde der Staat Palästina nicht zustande kommen, wenn es im UN-Sicherheitsrat, der die Sache an sich ziehen kann, zu einem Veto der USA kommt.

Flocken: Und das ist absehbar?

Johannsen: Ein Veto der USA ist absehbar, das haben die USA erklärt, und ich sehe gar keinen Anlass, daran zu zweifeln.

Flocken: Warum will Palästinenserpräsident Abbas dann aber einen Antrag in der UN-Generalversammlung stellen?

Johannsen: Er könnte auch zuerst zum Sicherheitsrat gehen. Der Sicherheitsrat würde dann eine Empfehlung aussprechen, dass die UN-Vollversammlung dem folgt, oder er würde mit einem Veto diese Empfehlung nicht geben. Dann könnte Abbas immer noch in die Generalversammlung gehen. Er hat sozusagen den Weg gewählt, gleich in die Generalversammlung zu gehen, um auf diese Art und Weise eine größtmögliche Anzahl von Staaten dazu zu bringen, zuzustimmen. Und um auf diese Art und Weise sozusagen den Weg zu einer Statusaufwertung Palästinas in den Vereinten Nationen zu ebnen.

Flocken: Also ist das nur ein erster Schritt von Abbas, in die UN-Generalversammlung zu gehen?

Johannsen: Die UN-Generalversammlung wird abstimmen und es wird eine große Zustimmung, möglicherweise eine Zweidrittel-Mehrheit, in der UN-Generalversammlung geben. Und das ist eine enorme Aufwertung von Palästina, das noch kein Staat ist. Die Hoffnung besteht, dass man mit dieser enormen Aufwertung einen Prozess in Gang setzt, in dessen Verlauf es letztlich zu einem Staat Palästina kommen wird. In dem dieses Palästina, als noch Nicht- Mitgliedsstaat der UN, doch in den Vereinten Nationen eine Vielzahl von Funktionen wahrnimmt, die ihm im Grunde genommen einen Quasi-Staat Status geben. Auf diesem Wege besteht die Hoffnung, dass es dann doch irgendwann einmal zu einer Vollmitgliedschaft kommen wird.

Flocken: Ist das eine richtige Strategie von Abbas, so vorzugehen? Johannsen: Es ist das Einzige was ihm übrigbleibt. Wenn der UN-Sicherheitsrat mit einem Veto durch die USA blockiert wird, dann bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Ich halte das für einen richtigen Weg, einen Weg der auch Geduld erfordert. Dass die Palästinenser aber geduldig sind, was den eigenen Staat angeht, das haben sie seit langen Jahren bewiesen.

Flocken: Eine Anerkennung Palästinas in der Generalversammlung. Welche konkreten Folgen könnte so ein Schritt für Palästina haben?

Johannsen: Zum Beispiel könnte der Internationale Strafgerichtshof beschließen, dass dieser Staat Palästina ihm beitreten kann. Andere Unterorganisationen der UNO könnten das gleiche tun. Und das heißt insgesamt, dass der Status von Palästina so weit aufwertet wird, dass irgendwann einmal dieser Staat Palästina ein Vollmitglied wird. Es hat bisher keinen einzigen Fall gegeben, dass auf diesem Wege einem Staat die Aufnahme verweigert worden ist. Das heißt, dieser Weg ist etwas länger, aber insgesamt ist es durchaus denkbar, dass auf diese Art und Weise der Staat Palästina irgendwann in die UNO aufgenommen wird, wenn auch langsamer.

Flocken: Nun sagen Kritiker aber, dass eine Anerkennung Palästinas oder die Anerkennung eines Palästinenserstaates ohne Absprache mit Israel ein Fehler sei. Von einer unausgegorene Idee ist die Rede, und von einer Schauveranstaltung. Wie sehen Sie das?

Johannsen: Ich teile diese Auffassung nicht. Der Antrag an die UNO seitens der palästinensischen Autonomiebehörde ist erfolgt vor dem Hintergrund des Scheiterns von Verhandlungen. Es ist trotzdem keine Absage an Verhandlungen, auch wenn ein Staat Palästina zustande käme. Das würde ja nicht bedeuten, dass nicht mehr verhandelt wird. Denn nichts ist geklärt. Die Fragen der Grenzziehung, die Jerusalem-Frage, die Frage der Siedlungen, die Frage des Rückkehrrechts der Flüchtlinge. Alles das muss ja noch geklärt werden. Und insofern sind Verhandlungen nach wie vor nötig.

Flocken: Aber man geht doch damit einen Weg der Konfrontation. Jedenfalls ist das zu hören, vor allem aus Israel. Israel lehnt dieses Vorgehen ab. Und vor diesem Hintergrund ist auch zu befürchten, dass beispielsweise Abkommen von Seiten Israels aufgekündigt werden.

Johannsen: Ich würde das nicht als Konfrontation bezeichnen, sondern ich würde das als den Ausdruck einer Erkenntnis sehen, dass mit der jetzigen israelischen Regierung, mit ihrer jetzigen Zusammensetzung, Verhandlungen offenkundig zu keinem Ziel führen. Und insofern ist es tatsächlich eine Sackgasse. Ich würde diesen Gang zu den Vereinten Nationen aber nicht als eine Konfrontation beschreiben.

Flocken: An der Absicht des Palästinenserpräsidenten einen eigenen Staat auszurufen oder die Anerkennung in der Generalversammlung zu suchen, gibt es ja viel Kritik. Nicht nur in Israel, auch bei den westlichen Staaten, auch bei den USA. Warum versucht Palästinenserpräsident Abbas bisher an seinem Vorhaben festzuhalten? Was sind seine Motive und Interessen?

Johannsen: Abbas hat zusammen mit seinem Ministerpräsidenten Fajad vor zwei Jahren das Projekt des Aufbaus der Institutionen eines palästinensischen Staates in Angriff genommen. Dieser palästinensischen Autonomiebehörde wird inzwischen bescheinigt von der Weltbank, vom Internationalen Währungsfond, von der UNO, dass sie inzwischen ein Gebilde sei, das staatsfähig sei. Daran knüpfen sich natürlich auch Erwartungen seitens der Bevölkerung. Und diese Erwartungen kann Abbas schlecht enttäuschen.

Flocken: Wie steht denn die Bevölkerung in Palästina zu einer einseitigen Ausrufung eines Palästinenserstaates?

Johannsen: Die Bevölkerung ist einerseits mit großer Mehrheit für dieses Staatsprojekt und für diese Ausrufung. Andererseits glaubt sie nicht, dass das gelingen wird. Das ist eine merkwürdige Mischung zwischen Zustimmung und Resignation. Und diese Mischung ist nachvollziehbar, aber auch nicht ganz ungefährlich. Es ist auf jeden Fall klar, dass wenn Abbas ohne vernünftigen Grund einen Rückzieher macht, dass er dann enorm an Rückhalt verlieren wird. Und das will er sicher nicht.

Flocken: Israel ist gegen eine Anerkennung des Palästinenserstaates. Wenn es zu einer Anerkennung in der UN-Generalversammlung kommen sollte, welche Folgen hätte das für Israel ganz konkret?

Johannsen: Wenn es dazu kommen würde, wäre Israel noch isolierter als es heutzutage schon ist. Israel hat sich in den letzten Jahren in eine für Israel sehr unvorteilhafte Isolierung begeben. Sie würde dadurch noch verstärkt werden. Ansonsten ist Israel eigentlich nicht in einem Zugzwang. Die jetzige Regierung stellt Bedingungen für weitere Verhandlungen. Sie schließt vor allen Dingen aber zum Beispiel eine Teilung Jerusalems grundsätzlich aus. Sie fordert als einen Bestandteil eines Vertrages - man müsste fast sagen - die weitere Besatzung des Jordantales. Die israelische Regierung erklärte, die Grenzen von 1967 könnten nicht verteidigt werden. Das sind alles Aussagen, die nicht hoffen lassen, dass es mit dieser Regierung zu einer Einigung kommt.

Flocken: Wie ist Ihre Einschätzung: wenn es zu einer Anerkennung kommen sollte - wie würde Israel darauf reagieren? Außenminister Lieberman hat ja schon durchblicken lassen, oder sogar angekündigt, man würde gegebenenfalls auch die Oslo-Verträge annullieren.

Johannsen: Ja, wenn man die Oslo-Verträge annulliert, dann hat man aus Sicht Israels gar nicht viel gewonnen. Die Oslo-Verträge beinhalten letztlich, dass Israel sich aus einem Teil der Westbank und des Gaza-Streifens zurückzieht. Insgesamt hat sich Israel aus etwa 40 Prozent dieser Gebiete, die die Palästinenser für sich beanspruchen, zurückgezogen. Eine Wiederbesetzung dieser Gebiete kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Eine Wiederbesetzung mit Gewalt, das würde Krieg geben.

Flocken: Die USA und auch andere Staaten versuchen, die Palästinenser von einem Antrag auf Vollmitgliedschaft in der UN-Generalversammlung abzuhalten, bzw. diesen Antrag, der offenbar kommen wird, abzuschwächen. Haben diese Bemühungen, so einen Antrag auf Vollmitgliedschaft zu verhindern, möglicherweise Erfolg, oder ist es dafür vielleicht schon längst zu spät?

Johannsen: Ich kann mir schwer vorstellen, dass Präsident Abbas jetzt noch von seinem Vorhaben ablässt. Wenn er davon ablassen soll, dann muss er so zuversichtlich stimmende Versprechungen von den USA bekommen, die die USA aber nicht geben können. Es ist ganz offensichtlich so, dass die USA oder die jetzige US-Administration nicht bereit ist, auf Israel den Druck auszuüben, der erforderlich wäre, um Verhandlungen, die ja Abbas will, zu einem erfolgsversprechendem Unternehmen zu machen. Präsident Obama hat sehr viele innenpolitische Probleme, so dass ich mir nicht vorstellen kann, dass er auch noch ein Zerwürfnis mit Israel riskiert. Also wird es diesen Druck nicht geben, also wird Präsident Abbas von den USA auch nicht die Zusagen bekommen können, die er braucht, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Ich denke daher, dass Abbas von diesem Vorhaben nicht ablassen wird.

Flocken: Damit gefährdet er aber möglicherweise Finanzhilfen, auch aus den USA, die er dringend braucht.

Johannsen: Da haben Sie Recht, er gefährdet Finanzhilfen, die der Kongress beschlossen hat. Ich bin der Ansicht, dass diese Finanzhilfen, die dann vielleicht ausbleiben, was dumm wäre, dass dann als Einsatz andere Staaten dafür einspringen müssten.

Flocken: Es gibt ja auch Kompromissmöglichkeiten, mit denen versucht wird, die Vollmitgliedschaft der Palästinenser in der Generalversammlung zu verhindern. Da ist die Rede von einem Beobachterstatus mit erweiterten Rechten und ähnlichen Vorschlägen, statt einer Vollmitgliedschaft. Sind solche Ideen, und Kompromisse realistisch? Können sie Erfolg haben?

Johannsen: Ich halte das für realistisch. Das wäre ein Weg. Vor allem ist es deshalb ein Weg, weil eine Reihe von Staaten, und zum Beispiel die Schweiz, diesen Weg auch gegangen sind: Also kein Mitglied zu sein, aber mit vielfältigen Rechten in den UN-Unterorganisationen vertreten zu sein. Diese Staaten sind am Ende alle Vollmitglied geworden. Das heißt, auch das wäre ein Weg. Er würde länger dauern, aber auch das ist letztlich eine Möglichkeit, zu einem Staat Palästina zu kommen.

Flocken: Die angestrebte einseitige Staatsgründung Palästinas spaltet auch die EU, zumindest hat man dort zurzeit keine gemeinsame Position. Frankreich und Spanien halten eine völkerrechtliche Aufwertung der Palästinenser für richtig. Deutschland und die Niederlande beispielsweise und auch andere Länder wenden sich jedoch gegen einseitige Schritte. Wie soll sich die EU in Sachen Palästinenserstaat verhalten?

Johannsen: Die EU agiert wie immer uneinig. Das ist bedauerlich. Die EU hat im Grunde genommen außenpolitisch kein Profil. Ich würde es begrüßen, wenn die Europäische Union hier zu einer einmütigen Entscheidung käme. Diese einmütige Entscheidung sollte in einer Anerkennung Palästinas bestehen. Ich mache mir aber keine Illusionen. Deutschland ist zurzeit noch nicht so weit, und die Regierung hat sich sehr früh, und ich finde viel zu früh, festgelegt gegen eine Anerkennung zu sein. Ich wünsche mir, dass die deutsche Regierung die vielfältigen Stimmen der Fachleute zur Kenntnis nimmt, und dem legitimen Wunsch der Palästinenser nach einem eigenen Staat Beachtung schenkt.

Flocken: Dann würde die Bundesrepublik aber auf Konfliktkurs zu Israel gehen.

Johannsen: Das ist richtig. Die Bundesregierung würde auf Konfliktkurs zur jetzigen israelischen Regierung gehen. Die jetzige israelische Regierung ist allerdings meines Erachtens so begrenzt friedensfähig, dass es im Grunde im langfristigen Interesse Israels wäre, wenn die Bundesregierung diesen Konflikt nicht scheuen würde. Ich mache mir aber keine Illusionen darüber, dass bei der jetzigen Bundesregierung eine Gegenposition - jedenfalls öffentlich - schwer möglich ist.

Flocken: Es ist ja häufig zu hören, dass die EU im Nahostkonflikt eine Schlüsselrolle spielen könnte. Dadurch, dass man aber im Augenblick keine gemeinsame Position in Sachen Gründung eines Palästinenserstaates hat, wird da diese vermeintliche Schlüsselrolle nicht verspielt?

Johannsen: Die EU hat noch nie eine Schlüsselrolle gespielt. Potenziell ist die EU natürlich ein ganz gewichtiger Faktor. Und sie ist auch Teil des Nahostquartetts, genau wie die UNO und die USA und die Russische Föderation. Aber sie hat eine eigenständige Rolle eigentlich nie gespielt.

* Quelle: NDR Info Das Forum, STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 10. September 2011; www.ndrinfo.de


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