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Nahöstliche Momente der Wahrheit

Anerkennung des Staates Palästina: Nun ist die internationale Diplomatie gefordert

Von Reiner Bernstein, z.Z. Ramallah/Jerusalem *

Allen Pessimisten zum Trotz dürften die ersten Würfel gefallen sein. Wie nie zuvor sieht sich die internationale Diplomatie gefordert, nach dem Auftritt von Machmud Abbas am 23. September vor der UN-Vollversammlung ein Rahmenwerk für die Überwindung der tiefen Asymmetrie in den israelisch-palästinensischen Beziehungen zu erarbeiten. Während der Austausch von Botschaftern in die souveräne Entscheidung jedes einzelnen Staates fällt, ist das Ringen zweier Völker um dasselbe Land nicht nur deren eigene Angelegenheit. Wäre es anders, hätten sich die Vereinten Nationen und die europäischen Staats- und Regierungschefs in der Vergangenheit ihre Erklärungen und Resolutionen ersparen können.

Die Stellungnahme des Nahost-Quartetts vom selben Abend ist zwar aufgrund der Wiederholung bekannter Standpunkte kritisiert worden, aber sie verlangte erstmals von Israelis und Palästinensern einen in Stufen gegliederten Zeitplan mit der Maßgabe, bis Ende 2012 die Verhandlungen um den Endstatus abzuschließen. Zwar mag man sich dabei an das traurige Schicksal der „Road Map“ vom Frühjahr 2003 erinnern, doch nach deren Fehlschlag ist schwer vorstellbar, dass sich das Quartett eine weitere Niederlage zumuten will.

Dass, so Israels Botschafter in Washington Michael Oren inzwischen, die Koordination zwischen beiden Regierungen heute weit besser sei als in den letzten beiden Jahren ‒ Benjamin Netanjahu nannte am 25. September die amerikanische Politik ein „Minenfeld“ ‒, steht im Widerspruch zu anderen Einschätzungen, wonach Barack Obama nach dem Auftritt Netanjahus im UNWeltsaal seine umfassende Unterstützung der israelischen Politik bereuen dürfte. Es kann ihn nicht erfreut haben, dass die Umarmungstaktik des Ministerpräsident in der symbolischen Verleihung eines „Ehrenzeichens“ an ihn ihren Höhepunkt fand. Auch Obamas UN-Botschafterin Susan Rice mochte dämmern, dass die Hofierung Netanjahus politisch unangemessen war. Jedenfalls war ihr mehr als ein höflicher Applaus für den Regierungschef nicht zu entlocken. Der Nahost-Sonderbotschafter George J. Mitchell hatte schon vor Wochen das Handtuch geworfen.

Zwischen Staatsräson und ministerialer Askese

Warum Guido Westerwelle der Sitzung in New York fernblieb, wo doch die Beziehungen zu Israel zur deutschen Staatsräson gehören, entzieht sich dem Verständnis, auch wenn es richtig ist, dass Frieden nicht durch Ansprachen und Resolutionen erreicht werden kann und diese kein Ersatz für Verhandlungen sind. Doch die Bundesregierung hätte vor aller Welt ihrem Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung erneut politisches Gewicht verleihen und darlegen können, weshalb sie das palästinensische Vorgehen ablehnt. Bis dahin dürfte es ein einmaliger Vorgang in der Zeitgeschichte sein, dass auch Berlin zu den auswärtigen Regierungen und supranationalen Gremien gehört, die über die nationale Reife eines anderen Volkes entscheiden wollen.

Netanjahu weiß, dass der Staat Israel in welch territorialer Formation auch immer aus eigener Kraft im Ernstfall nicht zu verteidigen ist, auch nicht durch das angekündigte Festhalten am Jordantal. Und natürlich ist ihm klar, dass das Waffenpotential des gesamten politischen Westens eine existentielle Bedrohung Israels abwehren würde. Dennoch gilt die deutsche Nahostpolitik in Israel und in der palästinensischen Führung seit langem als vornehmliche Bremserin in der Europäischen Union. Zu den Geheimnissen dieser beabsichtigten Rolle gehört eine Verleugnung der Einsicht, dass die Besatzungspolitik das nationale Überleben des jüdischen Volkes in Israel gefährdet. Wer die Zwei-Staaten-Lösung ablehnt, landet in einem „binationalen“ Gemeinwesen oder in einem Apartheid-Staat ‒ in beiden Fällen in der unendlichen Fortsetzung des Konflikts.

Dem Bundeskanzleramt und dem Außenministerium sollte klar sein, dass die Wahrung der politischen und persönlichen Integrität Machmud Abbas’ für Israel die letztverbleibende Garantie für gewaltfreie Übergänge in eine zukunftsfähige Regelung darstellt. Es käme einem Desaster gleich, wenn Washington im Sicherheitsrat unter tätiger Mithilfe Berlins die diplomatischen Energien darauf beschränken würde, neun der fünfzehn Mitglieder auf seine Seite zu ziehen, um den Veto-Einsatz zu vermeiden und Abstimmungen über die politische Substanz des Friedens auszusitzen. Zu den ersten Ergebnissen muss die Aufforderung an die israelische Regierung gehören, sofort und unbefristet den weiteren Siedlungsbau einzustellen.

Netanjahus Wahrheiten

Nach fast einmütigem Urteil der israelischen Kommentatoren hatte Netanjahu einen schlechten Tag erwischt, ungeachtet seiner perfekten Beherrschung der englischen Sprache, die es ihm erlaubte, auf Abbas’ Einbringungsrede zur UN-Vollmitgliedschaft Palästinas zu extemporieren. Doch nachdem er die Generalversammlung als eine „Halle der zu langen Dunkelheit für mein Land“ beschimpft hatte, kam er zum dreiteiligen Kern seiner „Grundsätze der Wahrheit“, die jene Dunkelheit konstituiert hat: Das jüdische Volk sei nach den Jahrhunderten des Exils in seine Heimat zurückgekehrt; die Siedlungen in Judäa und Samaria sowie in Ostteil Jerusalems seien nicht die Ursache, sondern das Ergebnis des Konflikts, und die Palästinenser müssten erst mit dem „jüdischen Staat Israel“ Frieden schließen, bevor sie einen eigenen Staat verdienten.

Als Netanjahu die palästinensische Ablehnung der Vorschläge Ehud Baraks beim Gipfeltreffen in Camp David im Juli 2000 kritisierte, den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen auf Geheiß Ariel Sharons fünf Jahre später lobte und als er die Angebote Ehud Olmerts vom September 2009 ‒ von diesem jetzt in der „New York Times “ noch einmal zusammengefasst ‒ in Erinnerung rief, der die Elemente
  • 1967er Grenzen mit Gebietsaustausch;
  • Regelungen für Jerusalem auf der Grundlage der Clinton- Parameter vom Dezember 2000;
  • Regelungen der Flüchtlingsfrage gemäß den Vorschlägen der arabischen Friedensinitiative von 2002;
  • Demilitarisierung Palästinas mit de Verbot palästinensischer Militärallianzen mit anderen Staaten; gemeinsamer Kampf gegen Terrorismus und Gewalt,
gegenüber Abbas ins Spiel zu bringen versuchte ‒: Befand sich der heutige Regierungschef damals nicht dezidiert im Lager der Opposition? Gehörte er nicht zum Podium jener nationalistischen Massendemonstration im Herzen Jerusalems kurz vor der Ermordung Yitzhak Rabins am 04. November 1995, bei der die „Oslo II“-Vereinbarung mit dem beabsichtigten Verzicht auf Teile der Westbank in Grund und Boden verdammt wurde? Welches Maß an Gedächtnisschwund und Selbstgerechtigkeit muss den Gegnern einer Anerkennung Palästinas zugebilligt werden?

Zu den denkwürdigen Passagen Netanjahus gehörte zudem die Überzeugung, dass die strategische Freundschaft zur Türkei nach den Irritationen seit der „Mavi Marmara“-Friedensflotte vom Mai 2010 schnell wiederherstellbar sei und dass die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien festen Bestand haben würden. Damit dürfte der Regierungschef dem westlichen Druck auf den NATO-Partner in Ankara vertrauen, während er im Blick auf Kairo und Amman erneut auf den Autokratismus setzte, hier auf den Obersten Militärrat und dort auf König Abdullah II. In beiden Fällen ließ er seiner Abdankung vor der nachbarschaftlichen Realität freien Lauf, indem er sich bei Kairo auf den Mob, der vor zwei Wochen die israelische Botschaft gestürmt hatte, und in Amman jene Demonstranten mit ihrem Aufruf „Keine zionistische Botschaft auf jordanischem Territorium“ geringschätzig abtat.

Abbas’ Katalog

Interessanterweise verzichtete Abbas in seinem Vortrag darauf, das Verlangen nach Anerkennung Palästinas auf die UNTeilungsresolution vom November 1947 zurückzuführen und die Flüchtlingsresolution 194 vom Dezember 1948 zu erwähnen. An die Adresse der arabischen Staatsbürger Israels hatte er kurz zuvor appelliert, ihre politische Zukunft nicht mit seinen staatspolitischen Forderungen zu vermischen, „obwohl ihr ebenso zum palästinensischen Volk gehört wie die Palästinenser außerhalb Palästinas“; die Absage hinderte den Knesset-Abgeordneten Achmed Tibi nicht daran, sich der palästinensischen Delegation nach New York anzuschließen. Auch die Arabische Friedensinitiative vom März 2002 hatte keinen Hinweis auf das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Staatsbürgern Israels enthalten.

So beschränkte sich der Präsident auf fünf Forderungen an die Adresse Israels und der internationalen Staatengemeinschaft:
  1. Gründung des Staates Palästina in den Grenzen vor dem 05. Juni 1967 mit Ost-Jerusalem als seiner Hauptstadt und Verstärkung der selbsttragenden Eigenständigkeit;
  2. Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit mit Absage an palästinensische Terrorakte und an den israelischen Staatsterrorismus;
  3. grundsätzliche Bereitschaft zur sofortigen Rückkehr an den Verhandlungstisch;
  4. Recht auf politischen und zivilen Widerstand gegen die israelische Siedlungspolitik sowie
  5. Verpflichtung auf politische und diplomatische Mittel zur Durchsetzung der nationalen Ansprüche.
Mit diesen Forderungen einher gehe keine Delegitimierung Israels, sondern „wir reichen Israel die Hand zum Frieden“: „Genug, genug, genug“, so Abbas in der Nachfolge Rabins bei der Unterzeichnung der Prinzipienerklärung vor achtzehn Jahren und in Identifizierung mit der ägyptischen Protestbewegung gegen Hosni Mubarak seit 2009.

Dass dem Präsidenten der Fehler unterlief, neben den Muslimen und den Christen auch die Juden als Teilhaber des Heiligen Landes zu erwähnen, evozierte vor allem in jenen Kreisen heftige Kritik, die ihrerseits das Land Israel als alleiniges Erbe für das jüdische Volk reklamieren. Es bleibt Netanjahu vorbehalten, seinen „Durst nach dem Frieden“ als oberster Repräsentant des „stärksten Landes auf Erden“ zu detaillieren. Dass er der Gefangene seiner rechtsnationalen Koalition sei und vor allem seinen Außenminister Avigdor („Yvette“) Lieberman fürchte, wird in Israel zu Netanjahus Täuschungsmanövern gerechnet, seiner politischen Führungsverantwortung zu entkommen. Dass nur ein Viertel aller israelischen Fernsehzuschauer die Ansprachen von Abbas und Netanjahu verfolgten und die nette Show „Meisterkoch“ bevorzugten, ist kein gutes Vorzeichen für einschneidende politische Kurskorrekturen.

Trotz genereller Zustimmung ist Abbas von Sympathisanten in Israel, die sich für die Zwei-Staaten-Lösung einsetzen, die kritische Frage nicht erspart worden, warum er seine Rede nicht stärker auf die bekannten Regelungsparameter abgestellt habe, um Netanjahu herauszufordern, seinerseits endlich die eigene Agenda für einen künftigen Friedensplan auf den Tisch zu legen und die „schmerzlichen Kompromisse“ zu definieren. Stattdessen habe Abbas, so wurde bedauert, die Klagen über die allseits bekannten Folgen der Besatzung wie den Landraub, die Allmacht des Militärs, die Gewalt der Siedler und die alltäglichen Schikanen gegen die palästinensische Bevölkerung in den Mittelpunkt gerückt ‒ und damit die Chance vergeben, politisch stärker initiativ zu werden. Ob es von Abbas taktisch klug war, im Nachgang eine Neuverhandlung des Pariser Protokolls vom April 1994 zu verlangen, darf zusätzlich bezweifelt werden. Schließlich hatte Yasser Arafat, dem das Kleingedruckte in den Osloer Vereinbarungen ob seiner etatistischen Obsessionen zuwider war, entgegen den dramatischen Warnungen palästinensischer Experten seine Unterschrift unter diese Wirtschaftsabmachung gesetzt, an denen die Bevölkerung in der Westbank und in Ost-Jerusalem bis heute schwer trägt.

Auf ein Neues: Die Stunde der internationalen Diplomatie?

Der rhetorische Schlagabtausch zwischen Abbas und Netanjahu hat an der tiefen Asymmetrie in den israelisch-palästinensischen Beziehungen nichts geändert. Dennoch könnte die Bedeutung des 23. Septembers in die Annalen der Geschichte eingehen ‒ wenn die internationale Diplomatie ihrer Verantwortung für den Frieden zwischen beiden Völkern gerecht wird.

Zu den Voraussetzungen gehört das Wissen, dass die eigene Verpflichtung auf die politische Pragmatik an die Grenzen der ideologischen Prämissen eines Zionismus stößt, der nach 1967 eine umfassende Metamorphose seines Selbstverständnisses vollzogen hat und sich spiegelbildlich im Programm von Hamas wiederfindet. Während die Islamische Widerstandsbewegung die westliche (und israelische) Blockade des Gazastreifens ausgelöst hat, werden die Widerstände gegen die politische Rationalität auf Seiten Israels nicht hinreichend gewürdigt, obwohl Netanjahu es sich nicht nehmen ließ, die biblische Verankerung und die Erlösung des jüdischen Volkes in seinem Land noch einmal apodiktisch zu betonen. Es ist also an der Zeit, in unserer politischen Hemisphäre zwischen Theodor Herzls Vision eines „Judenstaates“ und der Forderung nach palästinensischer Anerkennung „Israels als jüdischen Staat“ nicht nur begrifflich zu unterscheiden. Denn dabei geht es ‒ und zwar jenseits des Status von Juden und Arabern ‒ um die Verfasstheit Israels als säkularer und demokratischer oder als religiös-orthodoxer Staat.

Abba Ebans einstiges Diktum ‒ gemünzt auf die Palästinenser ‒, sie ließen kein Gelegenheit aus, eine Gelegenheit auszulassen, trifft längst nicht nur auf Israel zu, sondern ist gleichermaßen auf das internationale Tableau anwendbar. Die Europäische Union werde gegenwärtig mehr denn je hofiert, hoben Martti Ahtisaari und Javier Solana bestärkend in einem zehn Punkte umfassenden Gastbeitrag für die „New York Times“ hervor, und könnten ihren Einfluss wie nie zuvor seit den Osloer Vereinbarungen auf den nahöstlichen Friedensprozess geltend machen. So wie wir damals unter dem Trauma der Shoah, so haben die Palästinenser heute angesichts des Traumas der Okkupation das Anrecht auf einen eigenen Staat, schrieb Gideon Levy in „Haaretz“. Wer es leugne, sei entweder ein Rassist, ein Chauvinist oder ein zynischer Opportunist.

* Dieser Beitrag erscheint auch auf der Website von Dr. Reiner Bernstein, 26. September 2011; www.reiner-bernstein.de


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