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Obama im Wunderland

US-Journalist bezeichnet offizielle Darstellung über Tötung von Al-Qaida-Führer Bin Laden als Schwindel. Pakistanischer Geheimdienst soll Aufenthaltsort gekannt haben

Von Knut Mellenthin *

Der US-Journalist Seymour Hersh ist international bekannt durch seine Berichte über das Massaker US-amerikanischer Soldaten im vietnamesischen Dorf My Lai (Son My) und die Folterpraktiken im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Jetzt hat er wieder eine große Story gelandet: In einem langen Artikel für die Zeitschrift London Review of Books beschäftigt er sich mit der Tötung Osama bin Ladens durch ein US-amerikanisches Spezialkommando in der Nacht zum 2. Mai 2011. Der umfangreiche Text ist seit Sonntag abend im Internet zu finden. Die zentrale Botschaft steht schon im ersten Absatz: »Die Darstellung des Weißen Hauses könnte von Lewis Carroll geschrieben worden sein« – dem Autor des Kinderbuchs »Alice im Wunderland«.

Der offiziellen Version der US-Regierung zufolge sind die US-Behörden ausschließlich durch jahrelange eigene Recherchen auf bin Ladens Versteck in der pakistanischen Stadt Abbottabad gestoßen. Regierung, Militär und Geheimdienst Pakistans seien in die Operation, die mit zwei Hubschraubern durchgeführt wurde, bis zuletzt nicht eingeweiht worden. Bin Laden sei »in Selbstverteidigung« erschossen worden, als er nach seiner Kalaschnikow greifen wollte. Die Leiche des Al-Qaida-Führers sei auf dem Rückflug unter Beachtung islamischer Begräbnisriten im Meer versenkt worden.

Dagegen behauptet Hersh jetzt, bin Laden habe sich nach seiner Flucht aus Afghanistan im Dezember 2001 zunächst an einem unbekannten Ort »in den Hindukusch-Bergen« versteckt, sei aber später von örtlichen Stammesmitgliedern gegen Bezahlung an pakistanische Stellen verraten worden. Seit 2006 sei er praktisch ein Gefangener des pakistanischen Geheimdienstes ISI gewesen. Die von ihm und seiner Familie bewohnte Villa in Abbottabad sei von ISI-Leuten bewacht und abgeschirmt worden. Im August 2010 sei der Chef der CIA-Vertretung in Islamabad durch einen hochrangigen ISI-Offizier, der sich das ausgesetzte Kopfgeld von 25 Millionen Dollar verdienen wollte, auf bin Ladens Versteck aufmerksam gemacht worden. Die US-Regierung habe die pakistanische Seite darüber zunächst nicht in Kenntnis gesetzt, sondern mit eigenen Aufklärungsmitteln mehrere Monate lang die Richtigkeit der Information überprüft. Schließlich seien die Führer der pakistanischen Streitkräfte und des ISI aber doch über die geplante Operation unterrichtet worden. Dadurch sei sichergestellt gewesen, dass das Killerkommando ohne Risiko über pakistanisches Gebiet ein- und ausfliegen konnte und dass im Moment des »Zugriffs« kein ISI-Wachpersonal vor Ort war.

Seiner üblichen Arbeitsweise entsprechend beruft sich Hersh im Laufe seines Artikels auf zahlreiche Informanten, darunter auch auf pakistanische Offiziere und Experten. Für alle wesentlichen Punkte seiner Version der Vorgänge nennt er jedoch nur eine einzige, zudem namenlose Quelle: einen im Ruhestand lebenden früheren US-amerikanischen Geheimdienstmitarbeiter. Ob und in welchem Ausmaß dieser Mann wirklich eigenes Wissen an Hersh weitergab – und nicht nur erzählte, was er von anderen gehört hatte – wird aus dem langen Artikel nicht deutlich. Unklar bleibt zum Beispiel, ob die CIA, die mit dem ISI schon seit Jahrzehnten eng kooperiert und diesen infiltriert hat, wirklich erst 2010 von bin Ladens Aufenthaltsort erfuhr.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 12. Mai 2015


Hier geht es zum Original-Text von S. Hersh:

The Killing of Osama bin Laden
In: London Review of Books, Vol. 37 No. 10 · 21 May 2015, pages 3-12

Auszug:

The most blatant lie was that Pakistan’s two most senior military leaders – General Ashfaq Parvez Kayani, chief of the army staff, and General Ahmed Shuja Pasha, director general of the ISI – were never informed of the US mission. This remains the White House position despite an array of reports that have raised questions, including one by Carlotta Gall in the New York Times Magazine of 19 March 2014.



Ein anderes Drehbuch

Olaf Standke über neue Enthüllungen zum Tod von Osama bin Laden **

Nicolas Cage auf der Jagd nach Osama bin Laden - die unlängst angekündigte Hollywood-Komödie verspricht, ein skurriler Film zu werden. Soll sie doch auf der wahren Geschichte eines durchgeknallten Ex-Häftlings beruhen, der elf Mal versucht habe, den Gottvater des Terrorismus zu töten. Aber was ist schon real, wenn es um den Fürsten der Finsternis geht. Der preisgekrönte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh hat gerade das vom Weißen Haus abgesegnete Drehbuch zur Hinrichtung des einstigen Al-Qaida-Chefs umgeschrieben, eine Heldengeschichte mit einem entschlossenen Präsidenten und Oberbefehlshaber, mit findigen CIA-Agenten sowie einem furchtlosen Killerteam der Navy Seals in den Hauptrollen. Doch der von Washington so heftig gesuchte bin Laden habe schon lange schwer krank unter Kontrolle des pakistanischen Geheimdienstes agiert und sei schnöde für 25 Millionen Dollar verhökert worden. Und überhaupt wollte man die ganze Operation als erfolgreichen Drohnenangriff verkaufen, um den umstrittenen Drohnenkrieg zu legitimieren. Doch dann stürzte ein Helikopter ab. Künstlerpech. Der Pulitzer-Preisträger wirft Obama jetzt Lügen vor. Hershs Kritiker wiederum haben Zweifel an den Quellen. Eines allerdings ist unbestreitbar: Die extralegale Hinrichtung hat im Wahlkampf geholfen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 12. Mai 2015 (Kommentar)


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