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Schlecht vorbereitet

Für eine seit Monaten beabsichtigte Militäraktion hat die pakistanische Regierung eine halbe Million Menschen ausgesiedelt. Ihre Versorgung wurde nicht mitgeplant

Von Knut Mellenthin *

Die pakistanische Militärführung hat am Sonnabend alle »unschuldigen Zivilpersonen«, die sich noch in Nordwasiristan aufhalten, dringend aufgefordert, sofort das Gebiet zu verlassen. Das sind vermutlich ohnehin nur noch wenige, da schon rund 460000 Flüchtlinge registriert wurden. Die Bevölkerung Nordwasiristan wird meist auf etwa 400000 geschätzt. Jetzt wird jedoch an manchen Stellen behauptet, es seien in Wirklichkeit rund 700000, und die Zahl der Flüchtlinge könne noch auf bis zu 600000 steigen.

Seit dem 15. Juni läuft die Militäroperation »Zarb-i-Azb«, deren erklärtes Ziel es ist, Nordwasiristan »von Terroristen zu säubern«. Der Name bedeutet »Scharf und schneidend«; er bezieht sich auf das legendäre Schwert des Propheten Mohammed. Mit »Terroristen« sind neben verschiedenen Gruppen und Bündnissen einheimischer Aufständischer, die nach afghanischem Vorbild mit dem Sammelbegriff »Taliban« bezeichnet werden, auch ausländische Kämpfer gemeint, die Nordwasiristan in den vergangenen Jahren als Ruheraum genutzt haben. Die Region ist der einzige Teil der sogenannten Stammesgebiete im Nordwesten Pakistans, wo seit 2006 keine größeren Aktionen der Sicherheitskräfte stattgefunden haben. Besonders zahlreich unter den Ausländern vertreten sind Usbeken, angeblich aber auch Tschetschenen und Araber.

In Pakistan ist es seit Jahren üblich, daß zu Beginn jeder Militäroperation die Bevölkerung gezwungen wird, die geplante Kampfzone zu verlassen. Viele Menschen mußten bereits zwei oder sogar dreimal auf die Flucht gehen. Die meisten Bewohner der Stammesgebiete – fast ausschließlich Paschtunen – leben von der Landwirtschaft. Die Flüchtlinge verlieren einen großen Teil ihrer Nutztiere, die sie nicht mitnehmen können, und oft nicht nur eine, sondern sogar zwei Ernten, da die Vertreibung meist mehrere Monate dauert. Zehntausende kehren gar nicht zurück, so daß Pakistan eine wachsende Zahl von Dauerflüchtlingen, vermutlich rund eine Million Menschen, hat.

Militäroperationen beginnen in der Regel mit mehrwöchigen Luftangriffen, gefolgt von Beschuß durch weitreichende Artillerie. Erst wenn so gut wie alle Bewohner geflüchtet oder richtiger gesagt zwangsausgesiedelt sind, beginnt der Einsatz von Bodentruppen. Am Donnerstag wurde gemeldet, daß dieser Zeitpunkt jetzt gekommen sei. Allerdings gab es danach nur eine kleine Bewegung von Panzertruppen im Basarviertel der Hauptstadt Miramshah. Aus der Warnung vom Sonnabend geht hervor, daß die eigentliche Bodenoffensive noch nicht begonnen hat. Das Militär gab die Zahl der bis dahin getöteten »Terroristen« am Donnerstag mit 361 und die eigenen Verluste mit zehn Mann an.

Obwohl die Planung einer großen Operation gegen Nordwasiristan schon seit einem halben Jahr bekannt war, sind die Vorbereitungen und Maßnahmen für die Versorgung der Flüchtlinge diesmal allen Berichten zufolge sogar noch schlechter als es in Pakistan ohnehin üblich ist. Zugleich wird die Pflicht, sich registrieren zu lassen, sehr viel schärfer gehandhabt und überwacht als in früheren Fällen. Zehntausende von Männern müssen bei Temperaturen von zeitweise über 40 Grade viele Stunden lang in Schlangen anstehen, um ihre Familien anzumelden oder Lebensmittelzuteilungen zu ergattern. Wiederholt kam es zu Protesten, bei denen die Sicherheitskräfte »Warnschüsse in die Luft« abfeuerten oder auf die Flüchtlinge einschlugen.

Die meisten Flüchtlinge leben gegenwärtig in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa, die an die Stammesgebiete angrenzt und seit vorigem Jahr von der oppositionellen PTI regiert wird. Nach Stimmen ist sie die zweitstärkste Partei hinter der regierenden PML-N. Parteichef Imran Khan hatte noch bis vor kurzem darauf gedrängt, die Konflikte mit den Taliban auf dem Verhandlungsweg zu lösen, und hat der Militäroperation nur spät und widerwillig zugestimmt. Ihre Gegner schieben der PTI jetzt die Hauptschuld am Elend der zwangsausgesiedelten Bevölkerung Nordwasiristans zu.

* Aus: junge Welt, Montag, 30. Juni 2014


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