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Pakistans Koalition unter Erfolgsdruck

Bevölkerung hofft nach Abgang des Diktators auf spürbaren Entwicklungsschub

Von Hilmar König, Delhi *

Die fast neun Jahre währende »Ära Musharraf« ist zu Ende. Am Montagabend 18. August) nahm Senatspräsident Mohammed Mian Sumro das Rücktrittsangebot des Generals a. D. an. Wie es nun in Pakistan weitergehen wird, ist mit einem unübersehbaren Fragezeichen verbunden.

Sie sprach der Bevölkerung aus dem Herzen: Der Rücktritt von General a. D. Pervez Musharraf ebne den Weg für Pakistans Regierung, jetzt die Grundaufgaben in Angriff zu nehmen, die sozialen Dienste zu verbessern, die Wirtschaft anzukurbeln, politische Sicherheit und Stabilität, Gesetz und Ordnung zu gewährleisten. Diese Hoffnung formulierte Informationsministerin Sherry Rehman und setzte ihre eigene Regierung damit unter Erwartungsdruck. Zumindest zählen die Ausflüchte und Vorwände nicht mehr, Musharraf blockiere mit seiner Willkür die Arbeit der Regierung, die immerhin schon fast ein halbes Jahr im Amt ist, ohne dass ein Entwicklungsschub zu spüren gewesen wäre.

Fest steht, dass mit Musharrafs »freiwilligem« Abgang -- tatsächlich kam er damit einem Amtsenthebungsverfahren zuvor -- die demokratischen Kräfte einen bemerkenswerten Sieg errungen haben.

»Mission zur Rettung der Nation«

Folter, das Verschwinden politischer Gegner, Vergewaltigung der Rechtsprechung, Absetzung und Hausarreste für den Chefrichter des Höchsten Gerichts, Verfassungsänderungen zur Festigung der Herrschaft Musharrafs -- das alles gehörte bislang zum pakistanischen Alltag. Damit rechtfertigte der Diktator seine »Mission zur Rettung der Nation«. Die Asiatische Menschenrechtskommission schätzte am Dienstag ein: Musharrafs Abgang sei eine klare »Verurteilung der Strategie der Zerstörung der Menschenrechte unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus«. Auch diesem Urteil dürfte sich die Mehrheit der Pakistaner vorbehaltlos anschließen. Immer wieder hatten sie in den neun Jahren kritisiert, dass das selbsternannte Staatsoberhaupt als enger Partner der USA den Kampf gegen Terrorismus und Extremismus zur rigorosen Unterdrückung der Demokratiebewegung im Land missbrauchte.

Der Westen nahm daran kaum Anstoß, während er gleichzeitig sogenannte Schurkenstaaten mit propagandistischem Trommelfeuer eindeckte. Condoleezza Rice, Washingtons Außenministerin, erwähnte jedenfalls in ihrem »Nachruf« auf Musharraf, dieser habe »den USA als guter Verbündeter gedient«. Ob die Regierungskoalition aus Volkspartei und Muslimliga-N auch ein verlässlicher Partner Washingtons wird, muss sich erst noch zeigen. Mehr als nur Stirnrunzeln verursachte bereits, dass Islamabad mit den Stammesältesten und deren Milizen in einigen Regionen an der afghanischen Grenze »Friedensabkommen« aushandelte.

Kabul und die Führung der NATO-Streitmacht in Afghanistan halten es für erfolgversprechender, mit geballter militärischer Macht gegen die Stammesmilizen vorzugehen, die mit den Taliban und Al Qaida kollaborieren. Mehrfach drohte das Pentagon, diese Aufgabe selber zu erledigen und auf pakistanisches Gebiet vorzudringen. Dass in den letzten Tagen bei Gefechten in den Stammesgebieten über 500 Menschen ums Leben gekommen sind und über 200 000 zur Flucht getrieben wurden, offenbart allerdings, dass Islamabad nicht ausschließlich auf Dialog und Friedensabkommen setzt. In Afghanistan, wo Präsident Hamid Karsai während der Musharraf-Ära mehr als einmal beklagte, der pakistanische Geheimdienst stecke mit den Taliban unter einer Decke, begrüßte man den Sturz des Generals a.D. von der politischen Bühne. Wadir Sahi, Dozent an der Fakultät für Politikwissenschaften der Kabul University, kommentierte: »Musharraf versprach, gegen Al Qaida zu kämpfen. Aber er war nicht ehrlich, deren Nester in Pakistan auszuräuchern.« Zumindest sei Afghanistan jetzt von dessen janusköpfiger Politik befreit, was direkte Auswirkungen auf Afghanistan haben werde.

Im Gegensatz dazu gaben die Inder, die von Musharrafs Kurs in den letzten vier Jahren eigentlich trotz des weiter bestehenden Kaschmirproblems profitiert hatten, vorerst nur eine vorsichtige Stellungnahme ab. Es handele sich um eine innerpakistanische Angelegenheit, schätzte die Kongresspartei ein. Eine dramatische Veränderung zum Positiven oder Negativen des Verhaltens Islamabads gegenüber Indien erwartet man in Delhi ohnehin nicht.

Unsicherheitsfaktor Militär

Bleibt noch ein großes Fragezeichen: Wie wird sich das Militär Pakistans, das rund die Hälfte der 61 Jahre staatlicher Selbstständigkeit direkt Macht und auch sonst maßgeblichen politischen Einfluss ausübte, verhalten? Bislang gibt es keine Anzeichen für eine Intervention. Armeechef Ashfaq Parvez Kayani bleibt auf dem öffentlich verkündeten Kurs, die Streitkräfte aus dem politischen Geschehen herauszuhalten. Das kann sich freilich ändern, wenn die Demokratiebewegung mit dem Militär ins Gehege kommen, beispielsweise dessen Positionen in der Wirtschaft antasten sollte. Aber das sehen die politischen Schlüsselfiguren Asif Ali Zardari von der Volkspartei und Nawaz Sharif von der Muslimliga-N ganz gewiss nicht, wenn überhaupt, als vordringliche Aufgabe an.

Musharrafs Machtverfall

[Eine Chronik]
  • 9. März 2007: Musharraf setzt den obersten Richter Iftikhar Mohammad Chaudhry ab. Das führt zu Großdemonstrationen.
  • 3. Juli: Radikale Koranschüler besetzen die Rote Moschee in Islamabad. Bei der Erstürmung am 10. Juli sterben über 100 Menschen.
  • 20. Juli: Das Oberste Gericht setzt Chaudhry wieder ein.
  • 28. September: Das Verfassungsgericht entscheidet, dass Musharraf zur Präsidentenwahl antreten darf, obwohl er zugleich Armeechef ist.
  • 6. Oktober: Das Parlament und die Provinzparlamente bestätigen Musharraf im Präsidentenamt. Die Oppositionsparlamentarier boykottieren die Wahl. 18. Oktober: Ex-Premierministerin Benazir Bhutto kehrt nach acht Jahren im Exil zurück. Bei einem Anschlag auf ihren Konvoi sterben 145 Menschen.
  • 3. November: Musharraf verhängt den Ausnahmezustand. Chaudhry wird wieder abgesetzt.
  • 25. November: Ex-Premier Nawaz Sharif kehrt aus dem Exil zurück.
  • 28. November: Musharraf tritt als Armeechef zurück.
  • 29. November: Mit der Vereidigung Musharrafs als Präsident werden acht Jahre Militärherrschaft formell beendet.
  • 3. Dezember: Die Wahlkommission schließt Sharif von der Wahl aus.
  • 15. Dezember: Musharraf hebt den Ausnahmezustand wieder auf.
  • 27. Dezember: Bhutto wird bei einem Anschlag während einer Wahlkampfveranstaltung getötet.
  • 18. Februar 2008: Bei der Parlamentswahl erringt die Opposition einen überwältigenden Sieg. Gemeinsam haben die PPP der ermordeten Bhutto und die PML-N Sharifs rund 60 Prozent der Sitze.
  • 7. August: Die Regierungskoalition beschließt die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Musharraf.
  • 18. August: Musharraf kündigt seinen Rücktritt an.

Politiker im Fokus

Mohammed Mian Sumro: Der Vorsitzende des Senats, des Oberhauses des Parlaments, fungiert als Staatspräsident bis zur Wahl eines neuen Staatsoberhauptes. Die Frist dafür beträgt 30 Tage. Der 58 Jahre alte Politiker galt bislang als einer der Vertrauten Musharrafs und hat kaum Chancen, zum Präsidenten Pakistans gewählt zu werden. Für dieses Amt kommen Asif Ali Zardari und Nawaz Sharif in Frage.

Asif Ali Zardari: Ko-Vorsitzender der regierenden Pakistanischen Volkspartei (PPP), bis zur Ermordung seiner Ehefrau Benazir Bhutto 2007 Geschäftsmann. Er trug den wenig schmeichelhaften Spitznamen »Mister zehn Prozent«, weil er angeblich in etliche undurchsichtige Transaktionen verwickelt war und sich bereicherte, dafür unter Anklage stand und mehrere Jahre ins Gefängnis musste. Der 52-Jährige ist der Mann, der Premier Gilani dirigiert.

Nawaz Sharif: Chef der Muslimliga(N), der zweiten starken Partei in der Regierungskoalition. Zweimal Premierminister, nach dem Putsch Musharrafs ins Exil nach Saudi-Arabien verbannt. Kehrte im November 2007 in die Heimat zurück. Der 58-Jährige war und ist der schärfste Opponent Musharrafs. Vermögender Industrieller mit Hauptsitz in der prosperierenden Provinz Punjab.

Syed Jusuf Raza Gilani: Premier Pakistans, Führungsmitglied der PPP, saß während der Musharraf-Ära viele Jahre im Gefängnis. Spielte eine Schlüsselrolle beim Abgang Musharrafs, weil er im Juli bei einem Besuch in Washington Präsident Bush davon überzeugt hatte, dass der endlich seine Unterstützung Musharrafs aufgeben muss. Zuvor hatte Armeechef General Kayani dem Pentagon versichert, dass Pakistan weiterhin eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den Terrorismus spielen werde. Gilani begrüßte am Montag (18. Aug.) offiziell das endgültige Aus der Diktatur und die »Morgenröte der Demokratie«.
H.K.



* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2008


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