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Überfall auf Armeezentrale

Pakistan: Blutige Befreiungsaktion nach der Attacke in Rawalpindi

Von Hilmar König, Delhi *

Nach 22 Stunden endete auf dem Gelände des Hauptquartiers der pakistanischen Armee in Rawalpindi am Sonntag (11. Okt.) kurz vor Sonnenaufgang eine spektakuläre Geiselnahme. Taliban-Kämpfer hatten die Militärzentrale am Sonnabendmorgen (10. Okt.) attackiert.

Nach der Befreiung von 30 Geiseln – Zivilisten und Soldaten – konnte Militärsprecher Generalmajor Athar Abbas am Sonntagmorgen verkünden: »Die Operation ist beendet.« Die offensichtlich von den Taliban in Szene gesetzte Attacke spielte sich als Tragödie in zwei Akten ab. Die in Armeeuniformen gekleideten Angreifer fuhren am Sonnabend mit einem Kleintransporter bis zum ersten Kontrollposten des Hauptquartiers und eröffneten sofort das Feuer auf die Wachmannschaften.

Sechs Soldaten und fünf Angreifer wurden bei dem Gefecht getötet. Einigen der Militanten gelang es, am zweiten Kontrollposten auf das Gelände zu stürmen und sich mit zahlreichen Geiseln in einem Gebäude zu verschanzen. Dort leisteten sie 22 Stunden lang Widerstand. Bei der Befreiungsaktion am Sonntag wurden drei Geiseln, zwei Soldaten und vier Kidnapper getötet. Ein verletzter Angreifer konnte festgenommen werden. Für Innenminister Rehman Malik bestehen keine Zweifel, dass die im Grenzgebiet zu Afghanistan verwurzelte Tehreek-e-Taliban Pakistan hinter dem Überfall steckt. Deren Chef Hakimullah Mehsud hatte kürzlich mehr Überfälle auf die Streitkräfte, auf staatliche Einrichtungen und andere Ziele angekündigt. Sie sollen Revanche für den Tod des vorigen Taliban-Chefs Baitullah Mehsud sein, der im August durch Raketenbeschuss aus einer unbemannten US-Drohne ums Leben gekommen war.

Letzte Meldung

41 Tote bei Selbstmordanschlag auf einen Militärkonvoi

Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Militärkonvoi in Shangla im Nordosten Pakistans wurden am 12. Okt. nach Behördenangaben mindestens 41 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der Selbstmordattentäter zündete seinen Sprengsatz, als ein Militärkonvoi über den Markt von Shangla in der Nähe des umkämpften Swat-Tals fuhr. "Wir gehen davon aus, dass der Attentäter zu Fuß unterwegs war", sagte Major Mushtaq Khan. "Als er sich in die Luft sprengte, traf er auch einige Lastwagen mit Munition, die dann ebenfalls explodierten." Unter den Toten waren nach offiziellen Angaben sechs Soldaten. Zwar bekannte sich zu dem Anschlag in Shangla zunächst niemand, Taliban-Sprecher Azam Tariq sagte aber unter Hinweis auf eine Serie von Anschlägen in den vergangenen Tagen in einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur AFP: "Wir können überall in Pakistan zuschlagen."
Tariq spricht für die Bewegung der Taliban Pakistans (Tehreek-e-Taliban, TTP), die mutmaßlich dem internationalen Terrornetzwerk El Kaida angehört. Die TTP übernahm die Verantwortung für den Überfall auf das militärische Hauptquartier in Rawalpindi am Wochenende, bei dem nach jüngsten Angaben 22 Menschen getötet wurden - acht Angreifer, elf Soldaten und drei Geiseln.

Die pakistanische Armee hatte im April eine Offensive gegen die Aufständischen im Swat-Tal begonnen. Sie traf in den vergangenen Tagen Vorbereitungen für eine Ausweitung der Offensive in den sogenannten Stammesgebieten an der afghanischen Grenze. Die Verstärkung der Offensive stehe "unmittelbar" bevor, erklärte das Innenministerium. Gerechnet wird vor allem mit einer Boden-Offensive gegen mutmaßliche Taliban-Stellungen in Süd-Waziristan und im Bezirk Bajaur. Die US-Luftwaffe flog dort in den vergangenen Monaten bereits zahlreiche Angriffe, zum großen Teil mit unbemannten Drohnen.

Bei rund 280 Anschlägen, die zumeist von Selbstmordattentätern der pakistanischen Taliban verübt wurden, wurden innerhalb von gut zwei Jahren mehr als 2200 Menschen getötet. Erst am Freitag (9. Okt.) riss ein Selbstmordattentäter in Peshawar 52 Zivilisten mit in den Tod.

Nachrichtenagenturen, 12. Oktober 2009



Minister Malik erklärte nach dem dreisten Überfall auf das Militärhauptquartier: »Uns bleibt nur die Option zurückzuschlagen. Alle Wege führen nach Süd-Waziristan.« Dort operieren etwa 10 000 Angehörige von Stammesmilizen, die teils mit den Taliban identisch sind und die – so wird wenigstens vermutet – auch der Führung von Al Qaida Unterschlupf gewähren.

Pakistans Armee hat bereits dreimal vergeblich versucht, gegen diese Milizen zu bestehen. Doch jetzt glaubt sie, nach der relativ erfolgreichen Offensive in den Regionen Swat und Buner, bei der seit April über 1700 Militante eliminiert worden sein sollen, besser für einen Rundumschlag in Süd- Waziristan gerüstet zu sein.

Die Attacke in Rawalpindi brachte sozusagen das Fass zum Überlaufen. Aus Regierungskreisen in Islamabad verlautete, nun sei die Offensive in Süd-Waziristan unvermeidbar. Es handelte sich beim Überfall auf das Armeehauptquartier um den dritten großen Überfall innerhalb einer Woche. Am Freitag (9. Okt.) waren 52 Menschen bei einem Selbstmord-Sprengstoffanschlag auf dem Khyber-Basar in Peschawar und am vorigen Montag fünf Menschen bei einem Angriff auf ein Lager des World Food Programme in Islamabad getötet worden. Für Afghanistan und Indien besteht auch kein Zweifel, dass die Sprengstoffexplosion vom Donnerstag (8. Okt.) an der indischen Botschaft in Kabul – 17 Tote und Dutzende Verletzte – das Werk der Taliban war. Afghanistans Botschafter in den USA, Said T. Jawad, äußerte gar, der pakistanische Geheimdienst ISI, der als einer der Ziehväter der Taliban gilt, käme als Auftraggeber in Frage.

Pakistans Präsident Asif Ali Zardari und Ministerpräsident Jusuf Raza Gilani versicherten, solche Gewaltakte wie in der vergangenen Woche würden die Regierung nicht vom Kampf gegen die Geißel des Terrorismus abbringen. Alle politischen Parteien fühlten sich dieser Aufgabe verpflichtet.

Dennoch fordern vor allem die USA und Indien von Islamabad, konsequenter gegen die militanten Extremisten vorzugehen. Die Zeitung »The Hindu« verweist in einer Analyse auf Washingtons »AFPAK«-Konzept, das auf der These beruht, dass der Krieg in Afghanistan nicht gewonnen werden kann, wenn auf der pakistanischen Seite nicht zugleich das Wirken der Taliban und von Al Qaida drastisch beschnitten wird. Im Weißen Haus und im Pentagon, so die Zeitung, debattiere man: Sollen die USA mehr Soldaten nach Afghanistan schicken, wie von ISAF-Kommandeur General Stanley McChrystal gefordert? Sollte der Krieg auf pakistanisches Gebiet ausgeweitet werden? Wäre eine Verständigung mit den Taliban möglich, wenn diese ihre Verbindungen zu Al Qaida aufgäben? Und ist Pakistans Militär Teil des Problems oder dessen Lösung?

* Aus: Neues Deutschland, 12. Oktober 2009


Regierung in Schwierigkeiten

Die pakistanische Führung sucht eine gemeinsame Linie im Streit mit den USA

Von Knut Mellenthin **


Im Streit um das Verhältnis zu den USA haben sich die Spitzen von Pakistans Regierung und Armee am Wochenende geeinigt. Eine Konferenz führender Militärs hatte in der vergangenen Woche mit einer Protesterklärung gegen die vom US-Kongreß verabschiedete Kerry-Lugar-Bill geendet. Auch im pakistanischen Parlament, das seit Mitte voriger Woche tagt, zeichnet sich eine Mehrheit gegen die, wie es heißt, »Verletzung der Souveränität« des Landes ab. Der Regierung in Islamabad wird vorgeworfen, sich auf ein »Kapitulationsabkommen« eingelassen zu haben.

Das von den Senatoren John Kerry und Richard Lugar initiierte Gesetz sieht vor, daß Pakistan künftig weder Militärhilfe noch Waffenlieferungen erhalten soll, sofern das US-Außenministerium nicht alle sechs Monate bestätigt, daß eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind. Dazu gehört die Bereitschaft von Militär und Regierung, nicht nur die Taliban in den sogenannten Stammesgebieten verstärkt zu bekämpfen, sondern ihre »Antiterrormaßnahmen« auf des gesamte Land auszudehnen. Namentlich genannt werden im US-Gesetz die Städte Quetta und Muridke. Quetta ist die Hauptstadt der Provinz Belutschistan. Regierung und Militärs der USA behaupten, daß dort die Führung der afghanischen Taliban ihre Zentrale habe, was jedoch von allen pakistanischen Stellen entschieden bestritten wird. In den USA wird seit einiger Zeit darüber diskutiert, die Drohnen-Angriffe, die sich bisher nur gegen die Stammesgebiete richteten, auch auf Quetta und Umgebung auszudehnen. Muridke liegt in der Nähe von Lahore, der Hauptstadt der Provinz Pundschab. Der Ort gilt als Hauptquartier der Laschkar-e-Toiba, einer militanten Organisation, die nach Ansicht der Regierungen der USA und Indiens von Pakistan nicht entschieden genug bekämpft wird.

Am Wochenende tagten nun Präsident Asif Ali Zardari, Premierminister Jusuf Rasa Gilani, Armeechef Aschfaq Parvez Kajani, Außenminister Schah Mehmud Qureschi und Geheimdienstchef Schuja Pascha, um sich auf eine gemeinsame Taktik zu einigen. Beschlossen wurde, die pakistanischen Bedenken an Barack Obama heranzutragen. Der Präsident muß sich bis Dienstag entscheiden, ob er gegen das Gesetz sein Vetorecht gebrauchen oder es unterzeichnen will. Anderenfalls würde es automatisch in Kraft treten. Die pakistanische Führungsspitze will Obama dazu bewegen, bei der Unterzeichnung eine Erklärung abzugeben, daß keine Beeinträchtigung der pakistanischen Souveränität beabsichtigt sei. Außerdem wollen Regierung und Militär sich gemeinsam gegenüber dem Parlament dafür einsetzen, daß die Volksvertretung das US-Gesetz akzeptiert und sich darauf beschränkt, in einer möglichst geschlossenen Resolution ihre Bedenken zu formulieren. Davon hängt auch der Bestand der Regierung ab, da einige kleinere Koalitionsparteien bisher die Kerry-Lugar-Bill ablehnen.

Der Streit geht allerdings sehr viel tiefer. In Pakistan beobachtet man mit großem Mißtrauen die Bestrebungen der USA, ihre Präsenz im Land massiv auszubauen. Das Weiße Haus hat beim Kongreß 736 Millionen Dollar beantragt, um auf einem riesigen Areal in der Hauptstadt Islamabad eine neue Botschaft zu bauen. Das Projekt kommt im Umfang der im letzten Jahr fertiggestellten US-Vertretung in Bagdad gleich, für die 740 Millionen Dollar ausgegeben wurden. Unter dem Vorwand, das aufgeblähte Personal der geplanten neuen Botschaft schützen zu müssen, werden private Sicherheitsfirmen eingesetzt, die ihrerseits mit zwielichtigen pakistanischen Subunternehmen kooperieren. In den letzten Monaten gab es mindestens zwei Polizeiaktionen gegen solche Firmen, um illegal beschaffte Waffen sicherzustellen. Die US-Regierung will außerdem ihre Konsulate in Lahore und in Peschawar, der Hauptstadt der Nordwestprovinz, stark vergrößern. Da in Peschawar kaum konsularische Tätigkeiten anfallen, sieht man in Pakistan in diesem Plan die Absicht, einen CIA-Stützpunkt mitten in den Stammesgebieten zu errichten.

** Aus: junge Welt, 12. Oktober 2009


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