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Gewaltwelle in Pakistan

Tote bei US-Raketenangriff. Proteste gegen "Taliban-Recht"

Von Hilmar König, Delhi *

Mindestens 36 Personen sind am Wochenende in Pakistan bei mehreren Überfällen in der Stammesregion Nordwasiristan und in Islamabad ums Leben gekommen. Von einer US-Drohne abgefeuerte Raketen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet töteten 13 Menschen. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Kaserne in Islamabad sind am Samstag (4. April) acht Soldaten getötet und vier weitere verletzt worden. Bei einem Bombenanschlag auf eine Moschee in Chakwal im Norden des Landes starben mindestens 15 Menschen.

In Quetta, der Hauptstadt der südlichen Provinz Belutschistan, entdeckte die Polizei in der Nacht zum Sonntag (5. April) 62 Leichen in einem Container. In dem Fahrzeug, das aus Afghanistan kam und unterwegs nach Iran war, hatten sich mehr als 100 Personen, überwiegend Afghanen, versteckt.

Diese Ereignisse drängten den erschütternden »Chaand-Fall« zwar etwas in den Hintergrund. Doch mit Kundgebungen und Demonstrationen sorgten pakistanische Frauen- und Menschenrechtsgruppen am Wochenende in mehreren Städten dafür, daß die öffentliche Auspeitschung der 17jährigen Chaand durch Taliban-Beamte im Swat-Tal nicht so schnell in Vergessenheit gerät. Chefrichter Iftikhar Chaudhry will am heutigen Montag den Fall vor dem Höchsten Gericht verhandeln lassen.

»Die Taliban sind ein Fluch für diese Nation.« Mit solchen Plakaten und Sprechchören gingen in Peshawar, Lahore, Karatschi, Multan und Islamabad am Samstag Tausende Menschen auf die Straßen. Asma Jehangir, die Vorsitzende der pakistanischen Menschenrechtskommission, erklärte, der beschämende Vorfall in Swat offenbare, welchen Wert das »Friedensabkommen« zwischen den lokalen Taliban und der Regierung der Nordwestgrenz-Provinz hat. Nicht nur das Mädchen, sondern die ganze pakistanische Nation sei ausgepeitscht worden. Es handele sich nicht um ein »Friedensabkommen, sondern um die Kapitulation der Regierung Pakistans«. In Karatschi forderte die Frauenrechtlerin Nargis Rehman, alle an diesem Gewaltakt beteiligten Männer zu bestrafen. Der Islam verbiete strikt eine derartige Entwürdigung von Frauen. In Peshawar verlangten Demonstranten praktische Schritte, um Gewalt gegen Frauen und die wachsende Talibanisierung zu stoppen.

Am Freitag voriger Woche (3. April) hatte ein zweiminütiges auf vielen Fernsehkanälen ausgestrahltes Video, das die Bestrafung der 17jährigen dokumentiert, eine Welle der Empörung im Land ausgelöst. Es zeigt, wie das auf dem Boden liegende Opfer mit einem Rohrstock auf Gesäß und Rücken geschlagen wird und unter Schmerzensschreien vergeblich um Gnade bettelt. Wegen angeblich unmoralischen Verhaltens sollte es mit 37 Hieben gezüchtigt werden. Muslim Khan, ein Sprecher der Swat-Taliban, bestätigte die Bestrafung und bewertete sie als »gerecht«, da das nicht verheiratete Mädchen sexuelle Beziehungen zu einem fremden Mann unterhalten habe.

Wann sich der Vorfall ereignete, ist unklar. Die Provinzregierung behauptet, es wäre vor dem »Friedensabkommen« geschehen. Diese im Februar getroffene Übereinkunft soll für Frieden im Swat-Tal sorgen, das seit zwei Jahren von militanten Taliban beherrscht wird. Sie widersetzten sich erfolgreich dem pakistanischen Militär. Sie ließen Mädchenschulen bombardieren, Musikgeschäfte schließen und Schlagermusik in Autobussen verbieten. Das Abkommen, das vom Staatspräsidenten bislang nicht abgesegnet wurde, erlaubt den Taliban, in dem von ihnen dominierten Gebiet Recht nach der islamischen Scharia-Gesetzgebung zu sprechen. Seitdem funktionieren staatliche Gerichte im Swat nicht mehr. Sufi Muhammad, der Führer der islamistischen Bewegung in der Swat-Region, erklärte gegenüber einem Reporter des britischen Guar­dian, die neuen Gerichte würden »Bestrafungen wie Auspeitschen, Amputieren von Händen und Zu-Tode-Steinigen" anordnen. In einem Telefonat äußerte Muslim Khan: »Swat ist ein Testfall. Danach sollte die Scharia überall in Pakistan eingeführt werden.« Es sei Aufgabe der Taliban, dafür zu sorgen.

Die Empörung in der pakistanischen Öffentlichkeit hat die Taliban offensichtlich überrascht und verunsichert. Auf einer Pressekonferenz am Samstag (4. April) machte Muslim Khan einen Rückzieher und behauptete, das Video sei nicht in der Swat-Region gedreht worden. Dahinter stecke eine »Verschwörung« einer ausländischen Nichtregierungsorganisation, die das Friedensabkommen torpedieren wolle. Allerdings blieb er dabei, die 17jährige habe eine gerechte Bestrafung bekommen.

* Aus: junge Welt, 6. April 2009


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