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"Gras fressen" mit gefährlichen Folgen: Pakistan als atomarer Risikofall

Nukleares Kriegsrisiko, Verbreitung von Kernwaffen und Atomterrorismus bilden die explosive Mischung

Von Wolfgang Kötter *

Die Furcht vor einem Einsatz von Atomwaffen war nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden. Doch jetzt erwachen vergangene Ängste wieder, und häufig fällt der Name Pakistan, wenn nach den Quellen der Gefahr gefragt wird. Dafür gibt es schwerwiegende Gründe, denn gleich mehrfach erweist sich Islamabad als Herd der Unsicherheit.

„Gras fressen“ für die moslemische Bombe

Das Streben nach der ultimativen Waffe geht bis weit in das vergangene Jahrhundert zurück. Bereits im Jahre 1965 wurde die Pakistan Atomic Energy Commission (PAEC) gegründet. Im Januar 1972 erteilte der damalige Ministerpräsident Zulfiqar Ali Bhutto auf einer Konferenz in Multan den anwesenden Kernphysikern den Auftrag zum Bau einer Nuklearwaffe. "Es gibt die christliche Bombe, es gibt die atheistische Bombe, es gibt die jüdische Bombe und es gibt die hinduistische Bombe. Wir bauen die moslemische Bombe, und wenn wir dafür Gras fressen müssen", soll er den Anspruch formuliert haben. Mehr als 500 pakistanische Wissenschaftler und Ingenieure ließen sich in der Folgezeit in den USA, Kanada und in Westeuropa für den Nuklearbereich ausbilden.

Mit der Bundesrepublik schloss Pakistan 1972 ein Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit ab. Ohne deutsche Hilfe hätte Pakistan die Atombombe nicht bauen können, meint der amerikanische Atomwaffenexperte und Wissenschaftsjournalist der renommierten Zeitschrift "Nucleonics Week" Mark Hibbs: "Das ist natürlich ein Versäumnis der deutschen Politik, für 15 Jahre waren die Pakistaner in der Lage sich zu bedienen in deutschen Forschungsstätten. In dieser Zeit haben sie wahrscheinlich viel Wissen mit nach Hause nehmen können." So bildete das Kernforschungszentrum Karlsruhe entsprechend einer Vereinbarung mit der Atomenergiebehörde Pakistans rund 30 pakistanische Studenten aus. In der deutsch-niederländisch-britischen Gemeinschaftsanlage Urenco erwarben sie technologische Kenntnisse und verschafften sich nebenbei auch gleich Informationen über potentielle nukleare Lieferfirmen. Auch der Geheimdienstexperte Erich Schmidt- Eenboom meint: "Die Ausbildung pakistanischer Atomwissenschaftler in Karlsruhe hat diesem Land Schlüsseltechnologien und Know-how verschafft, ohne die deutsche Beihilfe wäre der Weg zur islamischen Atombombe nicht gangbar gewesen." Seine Vorwürfe gehen sogar noch weiter: „Das weit wichtigere politische Motiv war das Interesse der Bundesrepublik Deutschland, dass es zu einem Anwachsen der Zahl der Atomwaffenmächte kommt. Gerade die mitteleuropäischen Konkurrenten Frankreich und Großbritannien verdanken ihr politisches Gewicht ihrer Rolle als Nuklearstaaten, insbesondere den ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, insofern zielte deutsches Interesse darauf, diese Machtposition durch Verbreitung auszuhöhlen."

Der nukleare Supermarkt

Zu den angehenden Atomexperten gehörte der ursprünglich aus Indien stammende Abdul Qadeer Khan, der später zum Vater der pakistanischen Atombombe gekürt und als Volksheld geehrt wurde. Ende 1975 kehrte er nach Pakistan zurück, im Gepäck trug er bei der Urenco gestohlene Baupläne für Gasultrazentrifugen, die damals modernste Technologie zur Urananreicherung. Für den Diebstahl verurteilte ihn ein niederländisches Gericht in Abwesenheit, hob das Urteil aber später auf amerikanischen Druck hin wieder auf. Khan leitete da bereits das Forschungsinstitut "Khan Research Laboratories" in Kahuta bei Islamabad. Später berief ihn Präsident Pervez Musharraf sogar zum Technik- und Wissenschaftsberater. Als Nebentätigkeit betrieb er allerdings einen florierenden internationalen Schwarzmarkt für Nukleartechnik. Dort gab es von der Blaupause bis zur Gaszentrifuge alles zu kaufen.

Die offizielle Behauptung, in der Regierung habe niemand davon gewusst, klingt höchst fragwürdig. Auch der Chef der Internationalen Atomenergieagentur IAEA, Mohamed El Baradei, bezweifelt das: „Das kann nicht das Werk von Khan allein gewesen sein.“ Zumindest führende Köpfe der Armee oder des Geheimdienstes hätten eingeweiht sein müssen. Die IAEA habe erst im Jahr 2003 von Khans Geschäften erfahren, so Baradei, während die USA und andere Regierungen Khans Spuren schon seit längerem verfolgt hätten. Zu den Kunden auf dem „nuklearen Supermarkt“ sollen unter anderem Ägypten, Iran, Libyen, Nordkorea, Saudi-Arabien und Syrien gehört haben. Zwar steht der inzwischen Zweiundsiebzigjährige seit das Geschäft vor drei Jahren aufflog unter Hausarrest, doch der Schaden, den er der nuklearen Nichtverbreitung zugefügt hat, ist beträchtlich. Möglicherweise wird das globale Netzwerk illegaler Nuklearhändler auch immer noch durch Nachahmer weiterbetrieben.

Atomwaffenprogramm ohne völkerrechtliche Schranken

Pakistan, wie auch Nachbar und Dauerrivale Indien, trat weder dem Atomwaffensperrvertrag noch dem nuklearen Teststoppvertrag bei. Ohne völkerrechtliche Beschränkungen und mit Unterstützung aus China, Frankreich und den USA betrieb Islamabad hartnäckig und letztlich erfolgreich seine atomaren Rüstungspläne. Ende der siebziger Jahre gelang den pakistanischen Militärs mit dem Geheimprojekt "Butterfabrik" in Kahuta die erste Urananreicherung mittels Gaszentrifugen. Weitere Anreicherungsanlagen befinden sich in Golra Sharif und in Sihala. Aus dem auf etwa 90 Prozent angereicherten Uran-235 bauten sie einen nuklearen Sprengsatz. Andererseits scheiterten sie aber daran, Wiederaufbereitungsanlagen aus Westeuropa zu beschaffen. Doch zahlreiche westliche Firmen, darunter siebzig deutsche Unternehmen, waren für genügend Geld trotz bestehender Exportverbote bereit, sicherheitsrelevante Komponenten für Anreicherungsanlagen zu liefern.

Pakistanische Experten errichteten damit Anfang der achtziger Jahre im wichtigsten nukleartechnischen Laboratorium, dem Pakistani Institute of Nuclear Science and Technology in Rawalpindi, eine eigene Wiederaufbereitungsanlage. Sie stellt aus abgebrannten atomaren Brennelementen waffenfähiges Plutonium-239 her. Hier befinden sich auch zwei Forschungsreaktoren sowie eine moderne Pilotanlage zur Plutoniumgewinnung. Diesen alternativen Ausgangsstoff für Atomsprengköpfe produzieren ebenfalls Schwerwasserreaktoren in Joharabad im Punjabgebiet und in Chasma am Indus. Dort und in Karachi arbeiten weitere Forschungsreaktoren aus Kanada und China. Expertenschätzungen zufolge würde die Plutoniummenge ausreichen, um jährlich mindestens 40 Atombomben zu bauen. Die Montage der Nukleargefechtsköpfe erfolgt in den Waffenfabriken von Wah und Kahuta.

Ein Atomwaffenkrieg hätte katastrophale Folgen

Nachdem Indien im Jahre 1974 eine „friedliche“ Kernexplosion gezündet hatte, packte Pakistan sein langjähriges Projekt einer kernwaffenfreien Zone Südasien in die Schublade und forcierte die nuklearen Ambitionen. Damals konnte man dem indischen Nukleartest noch wenig entgegensetzen. Erst mehr als zwanzig Jahre später war es dann 1998 endlich soweit. Die wenige Tage zuvor erfolgten indischen Atomwaffenversuche in der Thar-Wüste von Rajasthan beantwortete Pakistan am 28. Und 30. Mai mit einer eigenen Testserie in den Chagai-Bergen in Baluchistan. Islamabad und Delhi haben zwar ein Abkommen unterzeichnet, mit dem das Risiko eines versehentlich ausgelösten Atomkrieges zwischen ihnen verringert werden soll. Seit 2004 gibt es auch einen „Heißen Draht“ zur direkten Kommunikation zwischen beiden Hauptstädten. Trotzdem flammen immer wieder neue Streitigkeiten beispielsweise um die geteilte Kaschmir-Region auf, und immer besteht dabei die Gefahr, dass sie schließlich zu einem nuklearen Schlagabtausch eskalieren. Hier, wo zwei der drei gegeneinander geführten Kriege begannen, kam es tatsächlich im Sommer 1999 zur bisher nahesten Konfrontation am Abgrund eines Atomkrieges: Indische Truppen beginnen Ende Juni den entscheidenden Angriff auf den umkämpften Tigerberg in der indischen Grenzregion Kargil, wo sich von Pakistan unterstützte moslemische Kämpfer verschanzt halten. Erstmals seit 20 Jahren fliegt Indien wieder Luftangriffe. Pakistan droht mit Vergeltung. Wie die Washington Post später offenbart, beginnt die pakistanische Armee, nukleare Mittelstreckenraketen für den Start vorzubereiten. In den USA schrillen die Alarmglocken, und erst in letzter Minute gelingt es Präsident Clinton auf einem eilig einberufenen Krisentreffen im Weißen Haus am 4. Juli, den pakistanischen Premier Nawaz Sharif zum Abblasen des Atomwaffenschlage zu veranlassen.

Atomwaffen in sicheren Händen?

Die militärische Leitung des pakistanischen Nuklearwaffenprogramms liegt bei der National Command Authority (NCA). Dieses kollektive Führungsgremium setzt sich zusammen aus dem Regierungschef, der zugleich Verteidigungsminister ist, dem Außen- und dem Innenminister, sowie führenden Generälen von Heer, Luftwaffe und Marine. Dazu wurde beim Joint Strategic Headquarters der Streitkräfte eine Strategic Plans Division unter Führung eines Generalleutnants eingerichtet. Dem NCA wurden zwei Komitees beigeordnet, die beide von Armeeoberbefehlshaber und Präsident General Musharraf, geleitet werden: Das Development Control Committee überwacht die Entwicklung eines nationalen Command-, Control-, und Communication- (C3-) Systems für die Atomstreitkräfte, sowie die laufenden Atomwaffenprogramme; das Employment Control Committee beschäftigt sich mit dem zukünftigen Ausbau des pakistanischen Nuklearkommandos. Das operative Einsatzkommando der Kernwaffen liegt zur Zeit bei einer Artilleriebrigade unter dem Befehl von Generalleutnant Khalid Kidwai. Das gegenwärtige Atomwaffenarsenal schätzen die Experten des renommierten „Bulletin of the Atomic Scientists“ auf etwa 60 Sprengköpfe. Es bleibt damit hinter dem bis zu 100 Explosionskörper umfassenden indischen Potential zurück.

Als Trägermittel wird langfristig eine luft-, see- und landgestützte Triade angestrebt. Die Raketenentwicklung begann im Jahre 1961 mit Gründung der "Space and Upper Atmosphere Research Commission". Bereits im Juni 1962 wurde die erste Kurzstreckenrakete Rehbar getestet. Zur Zeit laufen umfangreiche Rüstungsprogramme für Flugkörper unterschiedlicher Reichweite. Die Ghauri-III-Rakete erreicht 3.000 km und an einer Rakete mit einem Aktionsradius von über 4.000 km wird bereits gearbeitet. Die könnte dann unter anderem auch bis Europa fliegen. Kurzstreckenraketen vom Typ Ghaznavi und Shaheen-1 erreichen zwischen 100 und 700 km. Produktionsstätten befinden sich in Fatehjung und in Tarwanah bei Rawalpindi. Abschußbasis für Raketentests mit den Shadeen-Flugkörpern ist der Marinestützpunkt Sonmiani Beach. Alle bisher getesteten Raketen sind mobile Boden-Boden-Flugkörper, die auf Schwerlasttransportern montiert sind. Raketenstellungen befinden sich in Sargodha, rund 160 km nordwestlich von Lahore und an der pakistanisch-indischen Grenze zwischen Sialkot und Karachi. Das Militär entwickelt und testet auch Babur-Flügelraketen mit einer Reichweite von etwa 500 km. Diese fliegen relativ niedrig über dem Boden und könnten so der Radarerfassung durch die gerade entstehende indische Raketenabwehr ausweichen. Darüber hinaus stehen als Trägersystem ältere französische Mirage- und chinesische A-5-Kampfflugzeuge zur Verfügung. Die modernen US-amerikanischen F-16s-Jagdflieger können ein bis zwei Atombombe ohne aufzutanken etwa 1.600 km weit befördern. Die Maschinen sind heute auf mehrere Staffeln in Sargodha und Kamra verteilt. Auch ein Transportflugzeug vom Typ C-130 Hercules soll als Nuklearwaffenträger getestet worden sein.

Internationale Besorgnis

International wird die wachsende Gefahr eines Militärputsches oder gar Bürgerkrieges in Pakistan schon länger mit Beunruhigung verfolgt. Die Staatschefs Frankreichs und Großbritanniens äußern öffentlich Besorgnis, gleich mehrere US-Regierungen verfassten sogar Notfallpläne. Spezialeinheiten der US-Delta-Force trainieren, wie sie die pakistanischen Nuklearwaffen im akuten Krisenfall aufspüren und sicherstellen könnten. „Wann immer ein Land mit Atomwaffen eine Entwicklung wie derzeit Pakistan durchmacht, ist das eine vorrangige Sorge für uns“, bestätigt Generalleutnant Carter Ham, Chef für Sonderoperationen der US-Militärführung. Unter anderem wird befürchtet, dass durch einen Putsch extreme Islamisten in Militär oder im Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) die Verfügungsgewalt über Atomwaffen erlangen könnten. „Das Albtraumszenario ist natürlich, was passiert, wenn eine extremistische islamistische Regierung entsteht – mit einem einsatzbereiten Nukleararsenal“, sorgt sich Robert Joseph, bis vor kurzem Vize-Außenminister für Rüstungskontrolle im US State Department.

Auch internationale Terroristen der Taliban oder von Al Kaida könnten Nutznießer der jetzigen Instabilität sein und möglicherweise Spaltmaterial für den Bau einer radiologischen Bombe stehlen. Gelänge ihnen sogar der Zugriff auf nukleare Sprengsätze, wäre das besonders alarmierend, weil praktisch jeder Besitzer mit minimalen Fachkenntnissen die Bomben zünden könnte. Denn die pakistanischen Nuklearwaffen haben keine elektronische Code-Sicherung, die sogenannten Permissive Action Links (PAL), die bei den etablierten Atommächten den unautorisierten Einsatz von Atomwaffen verhindern. Ein weiteres Risiko liegt darin, dass Atomanlagen absichtlich oder irrtümlich zum Zielobjekt von Luft- oder Artillerieangriffen werden könnten. Die Folge wäre eine flächendeckende radioaktive Luftverseuchung. Die explosive Mixtur aus nuklearem Kriegsrisiko, Verbreitung von Kernwaffen und Atomterrorismus in Pakistan könnte nicht nur für die Region, sondern auch für die ganze Welt lebensbedrohlich werden.

* Dieser Beitrag erschien in einer gekürzten Fassung unter dem Titel "Gras fressen für die Bombe" am 16. November 2007 in der Wochenzeitung "Freitag".


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