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Qadris "Sieg" auf niedrigstem Niveau

Massenproteste in Pakistan beendet. Keine der wesentlichen Forderungen des Predigers wurden erfüllt

Von Knut Mellenthin *

Zu einer »demokratischen Revolution« gegen das »korrupte System« hatte der pakistanische Theologe und Verfassungsrechtler Tahirul Qadri seine Anhänger aufgerufen. Seit Dienstag nacht hatten mehrere zehntausend Menschen aus dem ganzen Land in der Hauptstadt Kabul bei Kälte und Regen unter freiem Himmel kampiert. Qadri hatte dazu aufgerufen, bis zur Erfüllung aller Forderungen auszuharren. Am Donnerstag kam es nach vier- bis fünfstündigen Verhandlungen zu einer Einigung zwischen dem Prediger, der zur betont gemäßigten und toleranten sufistischen Richtung des Islam gehört, und einer von der Regierung entsandten zehnköpfigen Delegation. Qadri verkündete anschließend, das pakistanische Volk habe gesiegt, und rief die Menge auf, friedlich nach Hause zurückzukehren. Nach Freudenfeiern, bei denen auch getanzt wurde, folgten die Demonstranten dem Appell.

Viele pakistanische Kommentatoren sind sich einig, daß die Regierung es Qadri zwar ermöglicht habe, die Aktion unter Wahrung seines Gesichts zu beenden, aber daß im Grunde keine seiner wesentlichen Forderungen erfüllt worden sei. Einige sprechen den Verdacht aus, daß das Ganze ein abgekartetes Spiel gewesen sei. Solche Spekulationen gab es schon von Anfang an. Nur weiß man immer noch nicht, was hinter den Vorgängen stecken könnte. Zum Vorwurf, daß Qadri mit der mächtigen Militärführung im Bunde sei und die parlamentarische Demokratie schädigen wolle, kommt nun auch noch der Verdacht, der Geistliche sei insgeheim ein Agent der Volkspartei (PPP), die seit 2008 die Regierungskoalition anführt.

Fakt ist: Qadri, der erst im Dezember 2012 als politisch Unbekannter nach siebenjähriger Abwesenheit aus Kanada zurückgekehrt war, hatte mit Parolen mobilisiert, die die gesamten Besitz- und Machtverhältnisse grundsätzlich in Frage stellten. Insbesondere hatte er gegen das Grundübel der pakistanischen Gesellschaft, die alle Strukturen durchdringende Korruption und Bereicherung durch Machtmißbrauch, agitiert.

Für den von ihm initiierten »Langen Marsch« nach Islamabad hatte Qadri sich allerdings auf wenige sehr viel beschränktere Forderungen konzentriert. Er verlangte die sofortige Auflösung des Parlaments und den Rücktritt des Kabinetts sowie die Bildung einer technischen Übergangsregierung zur Vorbereitung von Neuwahlen. Letzteres ist der von der Verfassung vorgeschriebene Weg. Dadurch soll, zumindest theoretisch, die Möglichkeit der an der Macht befindlichen Parteien verringert werden, auf die Durchführung der Wahl direkt Einfluß zu nehmen. Traditionell werden diese Übergangsregierungen jedoch von den Parteien oder in Absprache zwischen den stärksten Parteien des Landes besetzt.

Qadri wendet dagegen ein, daß so der angestrebte Zweck verfehlt werde. Er verlangte deshalb, dem Militär und dem Obersten Gerichtshof das entscheidende Wort bei der Bildung der bis zu den Wahlen amtierenden Statthalterregierung einzuräumen. Die am Donnerstag verkündete Einigung beläßt es im wesentlichen beim alten Verfahren, garantiert Qadri und seiner bislang politisch bedeutungslosen Partei jedoch ein Mitspracherecht. Im übrigen sieht das Abkommen vor, daß die Amtszeit des Parlaments bis zum 16. März beendet wird und daß spätestens 90 Tage danach, das wäre Mitte Juni, Neuwahlen stattfinden. Die wären allerdings ohnehin ganz regulär schon im Mai fällig. Religionsminister Khursheed Shah hatte am Mittwoch sogar ein Datum genannt: den 6. Mai.

* Aus: junge Welt, Samstag, 19. Januar 2013


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