Pakistan: Neuer Separatismus im Schatten der Kaschmir-Krise
Ein neuer Konfliktherd im Grenzbereich zu Afghanistan tut sich auf
Wer glaubt, mit dem in Aussicht stehenden formellen Ende des Afghanistan-Kriegs sei ein Schritt hin zur Stabilisierung der Region getan, könnte schon bald eines Besseren belehrt werden. Ursula-Charlotte Dunckern berichtet im "Freitag" vom 18. Januar 2002 über einen neuen möglichen Konfliktherd zwischen Pakistan und Afghanistan. Wir dokumentieren Auszüge aus ihrem Artikel "Osama in Paschtunistan".
... Selbst auf dem
Höhepunkt indischer Kriegsbereitschaft und trotz erheblicher Überlegenheit
der indischen Armee baute General Musharraf nicht alle verfügbaren
Truppen an der indischen Grenze auf, sondern hielt ein Minimum von
61.000 Mann an einer anderen Front zum Einsatz bereit: an der
pakistanisch-afghanischen Grenze.
Seit Monaten versucht Pakistan, diese Grenze zu versiegeln, um ein
Eindringen von Taleban- und al-Qaida-Truppen zu verhindern. Tatsächlich
wurden 240 der 445 Gefangenen in US-Gewahrsam beim Überqueren
dieser Grenze ergriffen. Sehr viel mehr, darunter wahrscheinlich auch
Taleban-Chef Mullah Omar, konnten die Grenze unbemerkt überschreiten.
...
Das gebirgige und nahezu unzugängliche Hindukusch-Gebiet ist diesseits
und jenseits der Grenze von Paschtunen-Stämmen bewohnt. Hier regieren
Warlords, die den ebenfalls zu den Paschtunen gehörigen Taleban aufs
engste verbunden sind. Viele eilten den bedrängten Freunden mit
Tausenden von Kriegern zu Hilfe, als die USA ihre militärischen
Operationen begannen. Einer von ihnen ist Mullah Sufi Mohammed, Führer
einer militanten sunnitischen Organisation, der im Oktober mit einer Armee
von 10.000 Mann nach Afghanistan ging, um an der Seite der Taleban zu
kämpfen. Mitte November, kurz vor dem Fall von Kunduz, kehrte er mit
seinen Truppen nach Hause zurück und wurde von pakistanischen
Einheiten an der Grenze aufgehalten. Sie verlangten die Entwaffnung der
Männer und die Verhaftung ihres Kommandanten. Während tagelanger
Verhandlungen campierten Mullah Mohammeds Truppen an der Grenze
und warteten auf eine Entscheidung. Am 22. November gaben sie den
Forderungen nach. Mullah Mohammed wurde festgenommen und in ein
Gefängnis gebracht, aus dem er schnell in den Untergrund entkam.
Die dramatische Grenzepisode hatte - so behaupten Informanten, die an
FBI-Verhören von al-Qaida-Gefangenen in Kandahar teilgenommen haben -
nur einen einzigen Zweck: Sie war ein Ablenkungsmanöver, um Osama bin
Laden und seine Familie nach Pakistan einzuschleusen, wo er sich seither
in Bijour aufhalten soll, eines der acht von paschtunischen Stämmen
bewohnten Gebiete der Federal Administered Tribal Areas (FATA), das
unter der Herrschaft Mullah Sufi Mohammeds steht.
Das FATA-Territorium, die Fortsetzung des afghanischen Tora
Bora-Gebirges, gehört formal zu Pakistan, wird jedoch von pakistanischer
Behörden oder Truppen nicht kontrolliert. Vielmehr sah sich Islamabad in
der Vergangenheit immer wieder afghanischen Forderungen gegenüber,
das Gebiet an den Nachbarn abzutreten - und so die Einheit der
Paschtunen diesseits und jenseits der Grenze herzustellen. Die aber
streben lange schon einen eigenständigen und unabhängigen Staat an.
Sollte sich der formieren - was in der gegenwärtigen Situation keineswegs
ausgeschlossen ist - böte er den aus Afghanistan fliehenden
internationalen islamischen Milizen ein ideales und nahezu
uneinnehmbares Rückzugsgebiet. Und Pakistan hätte - Ironie der
Geschichte - sein eigenes "Kaschmir".
Ursula-Charlotte Dunckern
Aus: Freitag 04, 18. Januar 2002
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