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Der Napoleon von Islamabad

Pakistan: Die Militärs haben das Land fest im Griff

Den folgenden Beitrag haben wir - gekürzt - aus der Online-Ausgabe der Schweizer Wochenzeitung WoZ (www.woz.ch) entnommen. Er wurde geschrieben vor der Wahl, deren Ergebnis wenig später die hier getroffenen Einschätzungen im Wesentlichen bestätigte.

Von Jan Heller, Islamabad

... Von Wahlfieber ist in Islamabad fünf Tage vor den Parlamentswahlen also kaum etwas zu spüren. Die Pakistani wissen, dass es diese Wahlen nicht geben würde, wenn sie etwas ändern könnten.
Und doch finden sie zu einem Zeitpunkt statt, an dem innenpolitisch viele Weichen gestellt werden im nach der Bevölkerungszahl siebtgrössten Land der Erde, das auch noch Atommacht ist. General Pervez Muscharraf, der Mitte Oktober 1999 mit einem unblutigen Putsch die Macht übernommen hatte, will das Land in eine «wirkliche Demokratie» führen. Immer wieder hat er das in seinen Reden betont, zuletzt sogar vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Nur nimmt ihm das in Pakistan kaum noch jemand ab.
Dabei hatte seine Herrschaft so hoffnungsvoll begonnen. Niemand erhob sich vor drei Jahren zur Verteidigung der gewählten PML-Regierung von Nawaz Sharif, der gerade dabei war, seine eigene Autokratie einzuführen. Wenn auch mit schlechtem Gewissen applaudierten anfangs selbst viele Intellektuelle, Liberale und Linke dem Putsch. Angesehene Aktivisten von nichtstaatlichen Organisationen wie Abbas Sarfaraz Khan und Omar Asghar Khan traten seinem Kabinett bei. Der zum Politiker mutierte Cricket-Star Imran Khan unterstützte Muscharraf. Sie hofften auf seinen unmittelbar nach dem Putsch verkündeten Sieben-Punkte-Plan. Darin versprach er unter anderem, die Macht zu dezentralisieren, «Recht und Ordnung» wieder herzustellen, die Wirtschaft zu beleben, eine neue, saubere politische Klasse zu schaffen und vor allem mit der Korruption aufzuräumen. Nichts hatte die Mehrheit der Pakistani mehr satt als das Wechselspiel der beiden korrupten Grossparteien PPP und PML.

Nawaz Sharif, ein Emporkömmling der vorletzten Militärdiktatur, nutzte seine Regierungszeit, um ein Imperium aus Stahl- und Zementfabriken aufzubauen. Eines seiner Vorzeigeprojekte ist die Autobahn, die Islamabad mit der Millionen-Metropole Lahore verbindet. Allerdings nicht auf geradem Wege, sondern mit einem Umweg über Sharifs Geburtsstadt, was die Autofahrer etwa eine Stunde auf der vierstündigen Strecke kostet. Zum Schaden der Zementindustrie wirds nicht gewesen sein. Nawaz Sharif wurde für dieses und andere Delikte zu vierzehn Jahren Arbeitslager verurteilt, kam aber nach ein paar Monaten wieder frei – ein Deal zwischen Muscharraf und dem saudischen Königshaus verhalf ihm zu einem komfortablen Exil.

Sharifs Vorgängerin und Rivalin Benazir Bhutto traf es noch besser, weil sie sich zum Zeitpunkt des Umsturzes in London aufhielt. Der Knast blieb ihr erspart, aber nicht eine Verurteilung (ebenfalls wegen Korruption), die sie wie Sharif von den jetzigen Wahlen ausschliesst. Ihr Ehemann Asif Zardari, wegen seiner Provisionsgepflogenheiten «Mister 10 Prozent» genannt, sitzt hingegen ein. Wie es unter diesem habgierigen Paar zuging, erfuhr beispielsweise der 1999 verstorbene Eqbal Ahmad, ein Mitstreiter von Frantz Fanon im algerischen Befreiungskampf und einer der eminentesten pakistanischen Intellektuellen der letzten hundert Jahre. Als er in Islamabad eine nach dem mittelalterlichen liberalen islamischen Denker Ibn Khaldun benannte Universität gründen wollte, stellte ihm Benazir zwar ein Grundstück zur Verfügung, aber ihr Gatte riss es sich später unter den Nagel – und legte darauf einen privaten Golfplatz an. Angesichts solcher Verhältnisse stiess Muscharraf anfangs auf Wohlwollen. Aber dann setzten sich seine «bonapartistischen» Eigenschaften durch (so die liberale Wochenzeitung «Friday Times»). Im letzten Jahr erklärte er sich zum Präsidenten, im Frühling liess er seine Amtszeit mit Hilfe eines manipulierten Referendums auf fünf Jahre verlängern, und im August erliess er nun 29 Verfassungszusätze, die das Parlament nicht aufheben kann. Dazu gehört (nach türkischem Vorbild) die verfassungsrechtliche Verankerung des bereits existierenden Nationalen Sicherheitsrates unter Muscharrafs Vorsitz. Muscharrafs «konstitutionelle und politische Reformen werden Pakistans parlamentarisches System radikal verändern, indem sie die Machtbalance von gewählten Repräsentanten und demokratischen Institutonen zu nicht gewählten Führern und Organisationen verschiebt», hält die internationale Analystengruppe der unabhängigen International Crisis Group fest.

Inzwischen ist klar: Muscharraf ist auf der ganzen Linie gescheitert. Sein Plan, dem Land neue demokratische Verhältnisse zu geben, ist zu einer Privatfehde mit den Bhuttos und Sharifs verkommen. Deren Familien sind zwar von den Wahlen ausgeschlossen, aber in den Wahlkreisen streiten wie eh und je die lokalen Feudalherren und alteingesessenen Politiker-Clans. Muscharrafs neue, als «Königspartei» verspottete Muslimliga PML/QA – so hatte auch die Partei des Staatsgründers Muhammad Ali Jinnah geheissen – besteht nur aus Wendehälsen aus PPP und Sharifs PML. Zudem manipuliert Muscharraf die Zusammensetzung des neuen Parlaments. Vor allem im Punjab, wo 149 der 272 Parlamentsmandate durch allgemeine Wahl vergeben werden (hinzu kommen noch Mandate, die Frauen und religiösen Minderheiten vorbehalten sind), überlässt der Geheimdienst ISI nichts dem Zufall. In jedem Distrikt des Punjab sitzt ein Geheimdienst-Oberst, der missliebige Kandidaten unter Druck setzt oder in die «Königspartei» lockt. Dafür werden auch geltende Regeln ausser Kraft gesetzt: So bekamen manche Politiker binnen 24 Stunden nach ihrem Beitritt zur PML/QA das für die Kandidatur nötige Hochschuldiplom. Der ISI sei «die aktivste Partei im Lande», beschwerte sich der Vorsitzende der Pakistanischen Menschenrechtskommission, Afrasiab Khattak.
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Auch die wirtschaftliche Bilanz fällt überwiegend negativ aus. Zwar haben sich nach Angaben der Staatsbank Export- und Steuereinnahmen erhöht, Haushaltsdefizit und Inflation verringert, aber das Wachstum sank von 4,2 auf 3,6 Prozent, die Zahl der (offiziell) Arbeitslosen und die Quote der in Armut lebenden Pakistani stiegen weiter an. Im Moment boomt nur die Börse von Karatschi: Hierher strömen jetzt viele pakistanische Vermögen aus dem Ausland, die aus Angst vor Beschlagnahme im Rahmen der Anti-Terror-Massnahmen von westlichen Banken abgezogen werden.

Gerettet hat Muscharraf der 11. September 2001. Der Westen habe ihn «von einem ärgerlichen Diktator zum zentralen Verbündeten im Krieg gegen den Terror befördert», befindet die britische Tageszeitung «Guardian». Nachdem noch unter Nawaz Sharif, aber auf Druck des damaligen Armeechefs Muscharraf ein Atomsprengsatz gezündet wurde und Pakistan sich zur Atommacht erklärte, stoppte der Westen seine Entwicklungshilfezahlungen. Als Muscharraf eine 180-Grad-Wende in seiner Afghanistan-Politik hinlegte – von beinahe bedingungsloser Unterstützung der Taliban hin zum Anschluss an die Anti-Kaida-Allianz –, war alles vergessen. Auslandschulden wurden erlassen oder umgeschuldet, neue Kredite kamen sowie eine stillschweigende Zustimmung zu Muscharrafs Institutionalisierung der Militärdiktatur.

Diese vollzieht sich nicht nur an der Spitze des Staates. 76 Generäle und 600 Obristen hat Muscharraf seit seiner Machtübernahme an den Schalthebeln von Wirtschaft und Verwaltung positioniert. ... Daneben existiert ein Netz von Unternehmen, die schätzungsweise fünf Milliarden Dollar wert sind. Deren Herz bilden vier Stiftungen, darunter die Fauji Foundation (Militärstiftung), die 18 000 aktive und pensionierte Offiziere beschäftigen.

Vor diesem Hintergrund erhält die Kritik des Journalisten Aly Zaman ungemeines Gewicht: Muscharrafs Kampagne für mehr Rechenschaftspflicht habe «Militär und Justiz unberührt gelassen». Zaman resümiert: «Der Hauptnutzniesser der unheiligen Allianz» (gemeint ist das US-pakistanische Bündnis) «ist unzweifelhaft Muscharraf, der Hauptleidtragende ist Pakistan.» Die Forderung, weitere westliche Hilfe von einer Rückkehr zu zivilen Verhältnissen abhängig zu machen, verhallt ungehört. Muscharrafs Putsch kann insofern als der erfolgreichste in der 55-jährigen Geschichte des Landes gelten. «Die Armee ist an der Macht», schreibt der bekannte Kommentator Khalid Hasan. Eine Garantie für Stabilität ist das nicht.

Aus: Wochenzeitung, 10. Oktober 2002


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