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Musharraf soll vor Gericht

Pakistan: Oppositionspartei legt Anklageschrift gegen früheren Diktator vor

Von Ashok Rajput, Neu-Delhi *

Pakistans früherer Militärmachthaber Pervez Musharraf gerät elf Jahre nach dem von ihm geführten Staatsstreich und zwei Jahre nach seinem Sturz zunehmend unter Druck. Die Pakistan Muslim League (Nawaz), die stärkste Oppositionspartei des Landes, hat zum Wochenbeginn eine aus 17 Punkten bestehende Anklageschrift gegen den General veröffentlicht, der seit zwei Jahren im Exil in London lebt. Die PML(N) will damit Druck auf die Regierung in Islamabad ausüben, die Auslieferung des Exilanten zu erzwingen und ihn wegen Hochverrats in Pakistan vor Gericht zu stellen. Dem früheren selbsternannten Präsidenten werden eine Reihe von Verbrechen angelastet, darunter der Sturz des rechtmäßig gewählten Premiers Nawaz Sharif am 12. Oktober 1999, die Verhängung des Kriegsrechts sowie das »mißglückte Kriegsabenteuer von Kargil«. Musharraf als Armeechef habe in diesem dritten Kaschmirkrieg gegen Indien 1998 rund 800 pakistanische Soldaten geopfert, der »Sache Kaschmirs irreparablen Schaden zugefügt«. Er sei außerdem für das »Verschwinden« zahlreicher pakistanischer Bürger verantwortlich, von denen etliche als Terrorverdächtige in die USA verschleppt worden sein sollen.

Erst vor einigen Tagen hatte sich Musharraf in London gegenüber seinen Landsleuten für Fehler entschuldigt, die er als Staatschef mit voller Rückendeckung des Militärs gemacht hatte. »Ich habe aus meinen Fehlern gelernt und werde sie nicht wiederholen«, zeigte er sich Anfang Oktober am Rande der Gründung einer eigenen Partei, der All-Pakistan Muslim League (APML), geläutert. Seine neue Partei sei notwendig, da Pakistan in einer tiefen Krise stecke und gerettet werden müsse. Deshalb wolle er vor den Parlamentswahlen 2013 in seine Heimat zurückkehren und sich politisch betätigen.

In Interviews plauderte er anschließend brisante Einzelheiten aus. So gab er zu, daß Pakistan militante Rebellen für den Kampf im indischen Teil Kaschmirs ausgebildet habe. Die Mitglieder extremistischer Gruppen wie Lashkar-e-Taiba, die maßgeblich an der Vorbereitung und Ausführung des Terroranschlags in Mumbai im Jahr 2008 beteiligt waren, würden in Pakistan als Freiheitskämpfer betrachtet. »Von unserem Standpunkt aus«, erklärte er gegenüber dem indischen Fernsehsender NDTV, »kämpfen sie für die Freiheit und Rechte der Kaschmiren.«

Auch wenn diese Aussagen zunächst für Indien keine Sensation darstellten, nahm Neu-Delhi sie mit gebotenem Ernst zur Kenntnis und bewertete sie als Bestätigung lange vorliegender geheimdienstlicher Erkenntnisse. Die rechte Indische Volkspartei (BJP) ließ sich die Chance nicht entgehen, umgehend einen Bezug zur angespannten Situation im Bundesstaat Jammu und Kaschmir herzustellen. Dort verlangen Demonstranten seit Monaten den Abzug der indischen Sicherheitskräfte. Bei den blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei und paramilitärischen Kommandos kamen bislang über 40 Menschen ums Leben. Immer wieder rufen die Behörden in der Region den Ausnahmezustand aus, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Musharrafs Geständnis offenbart nach Auffassung der Hindufundamentalisten, daß der gesamte Aufruhr von Pakistan inszeniert und gesteuert werde.

* Aus: junge Welt, 14. Oktober 2010


Musharraf wirbelt Staub auf

Exgeneral bietet sich Pakistans geplagter Bevölkerung als Retter an

Von Henri Rudolph, Delhi **


Pakistans Exdiktator Pervez Musharraf hat mit der Gründung einer eigenen politischen Partei und etlichen öffentlichen Erklärungen für Wirbel auf der politischen Bühne in Islamabad gesorgt. Präsident Asif Ali Zardari versuchte am Montag, Ruhe in die Szene zu bringen, und versicherte, die Regierung werde ihre Amtszeit trotz aller »Verschwörungen politischer Schauspieler« vollenden.

Anfang des Monats hob General a. D. Musharraf, seit zwei Jahren im Londoner Exil, seine All- Pakistan Muslim League (APML) aus der Taufe. Pakistan befinde sich in einer tiefen Krise, begründete er seinen Schritt, das Land müsse gerettet werden. Rechtzeitig vor den nächsten Parlamentswahlen 2013 werde er in die Heimat zurückkehren und in der politischen Arena aktiv werden. Seine Partei wolle die »Vision« das Staatsgründers Mohammad Ali Jinnah von einer aufblühenden Nation wiederbeleben. Musharraf entschuldigte sich für Fehler, die er als Staatschef gemacht habe und die »negative Auswirkungen« auf das Leben der Menschen hatten. »Ich habe aus meinen Fehlern gelernt und werde sie nicht wiederholen«, sagte er.

Es folgten verschiedene Interviews, die vor allem in der pakistanischen Armee und beim Nachbarn Indien aufhorchen ließen. Musharraf gab zu, dass Pakistan Rebellen für den Kampf im indischen Teil Kaschmirs ausgebildet hat, um den Nachbarn zu Diskussionen über den ungelösten Kaschmirkonflikt zu zwingen. Das war für die Inder zwar nur eine Bestätigung lange vorliegender Erkenntnisse, doch die hindufundamentalistische Indische Volkspartei (BJP) schlug sofort den Bogen zur Situation im Unionsstaat Jammu und Kaschmir, wo sich seit Monaten Sicherheitskräfte und Steine werfende Demonstranten blutige Schlachten - mit mehr als 40 Toten bisher - liefern. Nach Musharrafs »Geständnis«, fordert die BJP, müsse Delhi die »pakistanische Hand« bei den Unruhen stärker ins Kalkül ziehen.

Trotz des Dementis der Regierung und der Armee Pakistans legte Pervez Musharraf noch einmal nach und erklärte, in Pakistan würden militante Gruppen wie die Lashkar-e-Taiba (die hinter dem Terroranschlag 2008 in Mumbai steckt) als Freiheitskämpfer betrachtet. »Von unserem Standpunkt aus kämpfen sie einfach für Freiheit und Rechte der Kaschmiren. Und sie erhalten dafür große öffentliche Unterstützung,« erklärte er dem indischen Fernsehsender NDTV.

Offensichtlich sucht Musharraf die Gunst der Stunde für die reuevolle Rückkehr in die Politik Pakistans zu nutzen. Die Bevölkerung leidet immer noch unter den Folgen der Flutkatastrophe, die weit über ein Drittel des Landes heimgesucht hatte. Die Kritik an Präsident Zardari und Premier Jusuf Raza Gilani, die unfähig waren, koordinierend in die Rettungs- und Hilfsaktionen einzugreifen, ist längst nicht verstummt. Nach offiziellen Angaben kamen 1700 Menschen in den Wassermassen ums Leben, 20 Millionen waren direkt betroffen. Über acht Millionen wurden obdachlos. Sechs Millionen brauchen nach wie vor Nahrungsmittel- und andere Hilfe. Die verbreitete Unzufriedenheit ist verständlich, auch darüber, dass Zardari und Gilani behaupten, man sei dem Unglück »erfolgreich« begegnet und habe ein »robustes und umfassendes System zum Katastrophenmanagement etabliert«.

Vor diesem Hintergrund rechnet sich Pervez Musharraf nicht ganz zu Unrecht Chancen aus, wie Phönix aus der Asche als »Retter der Nation« aufzutauchen. Immerhin könnte er auf eine Menge Herrschaftswissen zurückgreifen: über den noch immer vom Militär beherrschten Machtapparat, über den Kampf der Streitkräfte gegen den Terrorismus im Grenzgebiet zu Afghanistan, über die Kollaboration von Gruppen im Geheimdienst ISI mit den Taliban und mit Al Qaida, über das Tauziehen zwischen den Parteien und die Versuche der Justiz , bis in die höchsten Ebenen reichende Korruptionsfälle aufzuklären. Voraussichtlich wird er weiter für Wirbel auf der politischen Bühne in Islamabad sorgen.

** Aus: Neues Deutschland, 13. Oktober 2010


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