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Indien und Pakistan suchen den Dialog

Zuspitzung im Kaschmir-Konflikt hat viele Aspekte

Von Hilmar König, Delhi *

Am Rande der 63. UN-Vollversammlung trafen sich jetzt auch Pakistans Präsident Asif Ali Zardari und Indiens Premier Manmohan Singh. Sie wollen den bilateralen Dialog wieder in Gang setzen, nicht zuletzt mit Blick auf die Krisenregion Kaschmir.

Ginge es nach der Körpersprache beider Politiker in New York, müsste das indo-pakistanische Verhältnis exzellent sein. Singh und Zardari umarmten sich mehrmals lachend für die Kameras. Hinter dieser freundlichen Fassade aber mussten sie sich mit einer Reihe ernster Probleme befassen. In einer Erklärung gaben sie zu, dass nach einer Serie von Terroranschlägen und Verletzungen des Waffenstillstands an der Kontrolllinie zwischen den Kaschmir-Teilen der Friedensprozess zum Stillstand gekommen sei. Deshalb streben sie »auf der Basis gegenseitiger Achtung, friedlicher Koexistenz sowie Nichteinmischung« eine baldige vollständige Normalisierung der bilateralen Beziehungen an und plädieren für einen »konstruktiven Dialog« zur friedliche Lösung auch des Kaschmir-Konflikts.

Zardari bekräftigte ausdrücklich, dass er zu der Vereinbarung vom Januar 2004 stehe. Darin verpflichtet sich Islamabad, von Gebieten unter pakistanischer Kontrolle keine terroristischen Aktivitäten gegen Indien zu erlauben. In New York vereinbarte man jetzt, die 5. Runde des Dialogs bis zum Jahresende über die Bühne zu bringen. Die Militärführungen der beiden atomar bewaffneten Staaten werden beauftragt, den Waffenstillstand zu »stabilisieren«. Die Experten des im September 2006 installierten Anti-Terrormechanismus treffen sich im Oktober. Der Grenzkontrollpunkt Wagah-Attari wird künftig auch für Gütertransporte auf der Straße und der Grenzbahnhof Kokrapar-Munabao für den Frachtverkehr freigegeben. In der Kaschmir-Region soll es ab 21. Oktober kleinen Grenzhandel über die Routen Srinagar-Muzaffarabad und Poonch-Rawalkot geben.

Ebenfalls im Herbst sollen im nordindischen Unionsstaat Jammu und Kaschmir, der seit dem Sommer von schweren Unruhen erschüttert wird, Wahlen für die Volksvertretung stattfinden. Etliche Parteien, darunter die lokale Demokratische Volkspartei (PDP) und die KP Indiens (Marxistisch), halten das für falsch. Man müsse mit einer Wahlbeteiligung um zehn Prozent rechnen, was einer Farce gleichkäme. Zunächst gelte es, mit den entfremdeten Kaschmiren in den Dialog zu treten. Die Region wird seit Juli durch einen Gouverneur regiert, der direkt die Zentralgewalt in Delhi vertritt. Da stand der indische Teil Kaschmirs bereits in Flammen. Entfacht wurde der Brand im Juni durch den Streit um einen Landstreifen entlang der Route zum hinduistischen Amarnath-Schrein, der den Pilgern zur Verfügung gestellt werden sollte. Die im Kaschmir-Tal siedelnden Muslime gingen, unterstützt von der separatistischen Hurriyat-Konferenz, dagegen auf die Straße, weil sie den Beginn einer Hinduisierung ihrer Region befürchten.

Der neue Gouverneur machte einen Rückzieher - doch daraufhin protestierten fundamentalistische Kräfte im hinduistisch dominierten Jammu und blockierten die Hauptverbindungsader ins Kaschmir-Tal. So gab es eine neuerliche Kehrtwende, womit sich die Lage zwar in Jammu, nicht aber in Srinagar und anderswo beruhigte. Dort hatte unterdessen die Hurriyat-Konferenz das Kommando übernommen, ein Konglomerat aus Parteien und Gruppen, die »Selbstbestimmung« für die muslimischen Kaschmiren verlangen. Die einen verstehen darunter »Azadi« (Unabhängigkeit), die anderen einen Anschluss ans islamische Pakistan, das ohnehin seit 1947 einen Teil Kaschmirs kontrolliert. Seit 1989 kämpfen Rebellen gegen die Regierungstruppen und ohne Pardon gegenüber Zivilisten für diese Ziele.

Der Sicherheitsexperte Praveen Swami konstatierte kürzlich in der Zeitung »The Hindu« ein »islamistisches Wiederaufleben« im indischen Kaschmir-Teil. Trotz Haft und Hausarrest machte sich der radikale Hurryiat-Führer Syed Ali Gilani zum Wortführer der aufgebrachten Kaschmiren und inszenierte eine antiindische Massenbewegung. Die Menschenrechtsaktivistin Assabah Khan meint, dass die Entfremdung der Muslime in Kaschmir und die Polarisierung zwischen den religiösen Gemeinschaften total seien. »Kaschmir ist ein Fall der inneren Krise des indischen Staates, wo Militär nicht zur äußeren Verteidigung eingesetzt wird, sondern zur Repression der Massen, die nicht als Mitbürger, sondern als die 'Anderen', als Feinde, betrachtet werden.«

Gilani schwebt ein islamischer Staat vor, in dem das »Bekenntnis zu Sozialismus und Säkularismus unser Leben nicht berührt und wir völlig vom Koran geleitet werden«. Auf der anderen Seite gießt die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) Öl ins Feuer. Ihr Präsident Rajnath Singh schlug auf einer Sitzung des Nationalen Exekutivkomitees vor, die Amarnath-Pilgerroute sollte »nationalisiert« werden, und meinte damit wohl, sie in Besitz der Zentralregierung in Delhi zu nehmen. Er sprach sich zudem dafür aus, den Ende der 80er Jahre vertriebenen etwa 400 000 kaschmirischen Hindu-Pandits ein gesichertes, separates Siedlungsgebiet im Kaschmir-Tal zu geben. Und er befürwortete, den Artikel 370 aus der indischen Verfassung zu streichen, der Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus unter den indischen Unionsstaaten einräumt.

Dutzende Menschen kamen trotz Ausgangssperren und Ausnahmezustand bei gewalttätigen Protesten im Kaschmir-Tal seit Juni ums Leben, hunderte wurden verletzt. Die indischen Nationalisten beharren auf dem alten Standpunkt, kein Millimeter nationalen Territoriums dürfe preisgegeben werden. Doch nicht nur aus intellektuellen Kreisen mehren sich Stimmen wie die von Assabah Khan: »Der letzte Rest Vertrauen zwischen den Kaschmiren und dem indischen Staat ist verschwunden. Sie wollen, dass ihr Recht auf Selbstbestimmung respektiert wird und Indien seine 700 000 Soldaten aus Kaschmir abzieht. Sie wollen, dass alle Handelsrouten zur pakistanischen Seite geöffnet werden, besonders nach der ökonomischen Blockade, als Obst im Wert von Milliarden Rupien verkam und die Menschen im Kaschmir-Tal wegen des Mangels an Medikamenten und Grundgütern fast umkamen. Von Pakistan erwarten sie politische und diplomatische Unterstützung.«

Das Verhältnis zwischen Delhi und Kaschmir beschreibt Khan so: »Es ist wie ein Kind, das sich schon im siebten Jahrzehnt im Leib der Mutter befindet. Es hat schon so viele Komplikationen bei dem Phänomen gegeben, dass die Mutter, der indische Staat, das Kind Kaschmir zur Welt bringen und zu einem unabhängigen Wesen machen muss. Das ist eine schmerzliche Erfahrung, aber wesentlich für das Überleben beider - Indiens und Kaschmirs.«

* Aus: Neues Deutschland, 29. September 2009


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