Kriminelle Syndikate
Suche nach Drahtziehern der Gewalt in der pakistanischen Hafenstadt Karatschi
Von Hilmar König *
Gespannte Ruhe herrschte am Mittwoch (4. Aug.) in der pakistanischen
16-Millionen-Stadt Karatschi. Es war der letzte Tag der Trauerzeit, die
nach der Ermordung des prominenten Politikers Raza Haider und der
anschließenden Eruption blutiger Gewalt von den Behörden ausgerufen
worden war. Haider, Abgeordneter des Provinzparlaments von Provinz Sindh
und gestandenes Führungsmitglied der Partei Muttahida Qaumi Movement
(MQM), war am Montag (2. Aug.) zusammen mit einem Leibwächter beim Besuch der
Jama-Moschee in Nazimabad erschossen worden. Kurz danach brachen in der
Hafen- und Industriestadt sowie in anderen Teilen der Provinz Unruhen
aus. Laut dem pakistanischen Privatsender Geo TV kamen dabei 62 Menschen
ums Leben, über 100 erlitten Verletzungen, 35 Fahrzeuge wurden in Brand
gesteckt, Geschäfte, Rikschas und Transportkarren gingen in Flammen auf.
Pakistans Innenminister Rehman Malik erklärte, Haider habe auf einer
Todesliste der illegalen militanten Organisation Sipah-i-Sahaba
gestanden, die gegen Schiiten und anderen Minderheiten kämpft. Der
Politiker habe auch Drohungen von der gleichfalls militanten Gruppe
Lashkar-i-Jhangvi erhalten. Man könne die Mörder durchaus in diesen
Kreisen vermuten. Es gebe keinen Zweifel, daß das Ziel des Attentats
gewesen sei, Pakistan zu destabilisieren.
Die MQM, die in Sindh ihre Hausmacht hat und Karatschi regiert, ist
landesweit die viertstärkste Partei nach der in Islamabad regierenden
Pakistanischen Volkspartei, der Muslimliga (Nawaz) und der Muslimliga
(Qaid). Ihr Chef Altaf Hussein ging nach den anhaltenden Unruhen in den
1980er Jahren 1992 ins Londoner Exil und steuert von dort aus seine
Partei. Traditionell vertritt sie jenen muslimischen Bevölkerungsteil,
der 1947 nach der Aufspaltung des Subkontinents in Indien und Pakistan
in die Provinz Sindh und deren Hauptstadt gekommen war. Die MQM hält
ihren politischen Hauptrivalen, die Awami National Party (ANP), für den
Drahtzieher des Mordes an Haider. Diese gilt als Interessenvertreterin
ethnischer Paschtunen aus dem Nordwesten Pakistans. In Karatschi leben
ungefähr vier Millionen Angehörige dieser Volksgruppe, und ihre Zahl hat
spürbar zugenommen, seit die Armee eine Offensive in den paschtunischen
Siedlungsgebieten an der afghanisch-pakistanischen Grenze führt. Die MQM
spricht in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit von der Gefahr einer
»Talibanisierung« Karatschis und behauptet, die Migranten würden
Aufständischen Unterschlupf gewähren.
Die ANP ist in der nordwestlichen Provinz Khyber-Pakhtunkhwa
Regierungspartei und unterstützt die Armeeoffensive gegen die Taliban
und mit ihnen kollaborierende Stammesmilizen. Sie weist die
Beschuldigungen, etwas mit dem Mord an Haider zu tun zu haben oder
extremistische Gruppen zu unterstützen, vehement zurück. Ihr
Generalsekretär in Sindh, Amin Khattak, sagte zu den Vorwürfen:
»Militante haben zu Hunderten unsere Brüder und Kollegen in Swat und
anderen Gebieten des Nordwestens getötet. Wie könnten wir jemals etwas
mit ihnen gemein haben?« Haiders Ermordung sei ein Versuch, ethnische
Spannungen in Karatschi zu schüren. »Anstatt Beschuldigungen zu erheben,
sollten wir die Verbrecher ausfindig machen und zur Verantwortung
ziehen«, forderte er.
Doch das wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, denn ethnisch,
politisch und religiös motivierte Gewalt hat hier Tradition. Die MQM
teilte mit, allein in den vergangenen drei Wochen seien 150 ihrer
Aktivisten ermordet worden. Lokale Medien in Sindh sprechen von über 300
Menschen, die bei ethnischen und politischen Auseinandersetzungen in
diesem Jahr in der Hafenmetropole ums Leben kamen. Die Schreckensbilanz
der Polizei enthält noch höhere Zahlen: 90 im Juli, 60 im Juni,
insgesamt seit Januar 700 Tote. »Kriminelle Syndikate mit kommerziellen
Interessen«, so die Medien, haben dabei ihre Hände im Spiel. Es gehe um
Land und Wasserressourcen, um Grundstücke, Drogen- und Waffenhandel.
Scheinbar politischer Zwist sei oft ein Tauziehen um Verwaltungsposten
und um ökonomische und kommerzielle Ressourcen.
* Aus: junge Welt, 5. August 2010
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