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Furcht vorm Monsun

Pakistan: Ein Jahr nach der Jahrhundertflut sind die Folgen vielerorts nicht beseitigt. Zugleich steigt die Sorge vor erneuten Überschwemmungen

Von Thomas Berger *

Pakistan fürchtet sich vor dem nächsten Monsun. Der ist mit seinen Regenfällen zwar lebensnotwendig, es drohen allerdings auch neue Überschwemmungen. Gerade ein Jahr ist seit der letzten derartigen Katastrophe vergangen. Damals, Ende Juli 2010, nahm jenes Ereignis seinen Lauf, das nicht nur im Inland als Jahrhundertflut in die Annalen einging, sondern auch von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon als eines der schlimmsten humanitären Desaster der Neuzeit bezeichnet wurde. Bis zu 20 Millionen Menschen waren von den großflächigen Überschwemmungen betroffen, und die Niederschläge des diesjährigen Monsuns und die daraus resultierenden ansteigenden Fluten gefährden jetzt abermals etwa zwei Millionen Menschen. Sollten die Regenfälle bis Anfang September erneut stärker ausfallen als im Durchschnitt, könnte die Zahl der Betroffenen sogar bis auf fünf Millionen steigen, so Manuel Bessler, Chef der UN-Nothilfebehörde (OCHA) für Pakistan.

Beim Rückblick zwölf Monate nach den traumatischen Ereignissen – als am Ende eine Landfläche unter Wasser stand, die größer als England war – wird auch deutliche Kritik am Ist-Zustand und den Versäumnissen laut. Die müssen sich sowohl die pakistanische Regierung, aber auch die internationale Gemeinschaft wegen nicht realisierter Hilfszusagen ankreiden lassen. Das südasiatische Land ist Experten der Vereinten Nationen zufolge weiterhin nur unzureichend gegen die erneut ansteigenden Pegelstände seiner Flüsse gerüstet. Dies belegt beispielsweise auch eine gerade vorgelegte Studie der internationalen Hilfsorganisation Oxfam. Nur ein Bruchteil der Zahlungen, die Pakistan seit dem vorigen Sommer erhielt, sind in Vorsorgemaßnahmen geflossen, die eine neue Katastrophe verhindern könnten. Gerade in der Provinz Sindh am Unterlauf des Indus und seiner Zuflüsse sind die beschädigten Deiche noch nicht wieder repariert – falls solche Schutzeinrichtungen gegen Hochwasser lokal überhaupt existieren.

Pakistans Megaflut 2010 war ein Ereignis, das wochenlang die Schlagzeilen weltweit bestimmte. Die Katastrophe bewegte die Menschen rund um den Globus und setzte eine beachtliche internationale Solidaritätswelle in Gang. Selbst der Nachbar und politische Erzrivale Indien stellte Hilfsleistungen zur Verfügung. Die gewaltige humanitäre Katastrophe sorgte sogar für kurzzeitige Entspannung im Dauerkonflikt zwischen beiden Atommächten. Im Angesicht der Wassermassen waren damals von zahlreichen Regierungen relativ zeitnah finanzielle Hilfen im Volumen von umgerechnet 1,8 Milliarden US-Dollar zugesagt worden. Deren tatsächliche Bereitstellung verzögerte sich indes ein ums andere Mal. Bis heute sind lediglich etwa 70 Prozent der einst versprochenen Gelder an Pakistan tatsächlich geflossen. Zudem sind mit der Summe allenfalls die Kosten für die Nothilfe abgedeckt – für den Wiederaufbau werden noch weitaus größere Beträge gebraucht: Nach letzten offiziellen Erhebungen belaufen sich die Gesamtschäden auf umgerechnet etwa zehn Milliarden Dollar. Knapp 1,8 Millionen Wohnhäuser sind von den Wassermassen entweder gänzlich weggespült oder unbewohnbar gemacht geworden. 7000 Schulen und 400 Gesundheitseinrichtungen wurden zerstört, ebenso wie etwa 4000 Kilometer Straßen und Bahnlinien. Und das in einem Land, dessen Infrastruktur ohnehin nur schwach entwickelt ist.

Die neue Bedrohung durch gerade im nördlichen Landesteil spürbar ansteigende Pegelstände ist deshalb nur ein Teil des aktuellen Problems. Weit schwerer wiegen immer noch die unbewältigten Folgen der Vorjahreskatastrophe. Diese kostete nicht nur knapp 2000 Menschen das Leben, und 3000 wurden verletzt. Millionen Pakistani verloren ihr Heim, mindestens 800000 von ihnen sind noch immer ohne Ersatz, wie aus den Ergebnissen der Oxfam-Studie hervorgeht. Trotz aller Widrigkeiten haben all jene immer noch Glück, die bei Verwandten unterkommen konnten. Allein etwa 37000 Familien harren sogar noch zwölf Monate später in den damals provisorisch errichteten Zeltlagern aus. Daß Teile des Landes selbst zum Jahreswechsel 2010/2011 noch überschwemmt waren, ist nur die halbe Erklärung, warum sich der Wiederaufbau so hinzieht. Geldmangel und die Ineffizienz von Verwaltungsstrukturen tun ein übriges.

Sollte es beim aktuellen Monsun erneut zu Überschwemmungen kommen, die größer sind als das üblicherweise der Fall ist, wäre das auch ein zusätzliches Problem für die ebenfalls von der Vorjahreskatastrophe schwer getroffene Landwirtschaft. Pakistanische Bauern haben voriges Jahr etwa 1,2 Millionen Stück Vieh verloren, eine ganze Ernte versank zu großen Teilen in den Fluten, und noch Monate später konnten etliche Felder nicht neu bestellt werden. Lediglich jene Großgrundbesitzer, die beispielsweise durch gezielte Umleitung der Wassermassen infolge der Öffnung von Dämmen einige Flächen retten konnten, stehen besser da. Das mehrfach nachgewiesene skrupelloses Verhalten der Landoligarchie in dem halbfeudalen Staat hatte vor einem Jahr eine Welle der Empörung ausgelöst.

* Aus: junge Welt, 27. Juli 2011


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