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Ruf nach Rückkehr der Generäle wird lauter

Pakistans Regierung wird der Lage in den Überschwemmungsgebieten nicht Herr / Militär präsentiert sich als einzig funktionierende Struktur im Staat

Von Hilmar König *

Das Flutdesaster in Pakistan wird nicht spurlos an der Regierung in Islamabad vorbeirauschen. Nicht nur unter der Not leidenden Bevölkerung im Punjab, in Sindh und im Nordwesten, sondern auch im Ausland herrscht der Eindruck vor, die staatlichen Stellen seien überfordert, Korruption und Inkompetenz würden die ohnehin unter katastrophalen Bedingungen lebenden rund 20 Millionen Betroffenen noch hoffnungsloser machen.

Spendenaufruf

Die Deutschen haben nach Angaben des größten Hilfsbündnisses bisher rund 16 Millionen Euro für die Flutopfer in Pakistan gespendet. "Aktion Deutschland Hilft" teilte am 24. August mit, dass die Spenden nach anfänglichem Zögern jetzt gut fließen.
Es gibt zahlreiche seriöse Organisationen, die für eine sachgerechte Verwendung der Spenden stehen. Wir empfehlen weiterhin das auch von medico international empfohlene Spendenkonto:

Konto-Nr.: 51 51
Bank für Sozialwirtschaft; BLZ 370 205 00
Stichwort: Pakistan



Altaf Hussain, der im Londoner Exil lebende Chef der politischen Partei Muttahida Qaumi Movement, rief angesichts der prekären Lage dieser Tage das Militär auf, die Macht zu übernehmen. Er appellierte an »patriotische Generäle, kriegsrechtsähnliche Maßnahmen gegen Politiker und jene zu initiieren, die ihre Ernten retten, indem sie die Fluten auf Dörfer der Armen umleiten«. Und auch der Korrespondent der britischen Zeitung »Telegraph« glaubt: »Wenn ein Land für einen Putsch reif ist, dann ist es Pakistan. Die belagerte Regierung von Präsident Asif Ali Zardari wird an allen Fronten von Konflikten, die von Menschen gemacht sind, und einer Naturkatastrophe geplagt. In Islamabad ist das Gefühl zu spüren, dass die Rückkehr der Generäle in den Präsidentenpalast irgendwie Erleichterung bringen würde.«

Tatsache ist, dass die Streitkräfte, die sich traditionell in Pakistans Politik einmischen und als eigentlicher Machtfaktor gelten, an vorderster Front im Kampf gegen die Überschwemmungen stehen. Sie besitzen dafür am ehesten die Ausrüstungen, die Logistik und die Kommandostrukturen. Sie präsentieren sich als durchaus kompetente Institution in der Stunde der Not. Doch seit dem Rücktritt des Kriegsrechtsadministrators und selbsternannten Präsidenten Pervez Musharraf vor zwei Jahren haben dessen Nachfolger in der Armee und im Geheimdienst ISI bedeutend weniger politisches Interesse demonstriert, zumal sie auf Druck der USA damit beschäftigt sind, in den paschtunischen Grenzgebieten zu Afghanistan eine Offensive gegen die Taliban und die mit ihnen kollaborierenden Stammesmilizen zu führen. So ist es wahrscheinlich, dass Hussains Appell zum Staatsstreich bei den Generälen kein Gehör findet.

Auch ohne das Jahrhunderthochwasser hatte die von der Pakistanischen Volkspartei geführte Regierung alle Hände voll zu tun, die labilen demokratischen Strukturen zu stärken, die bis in höchste Kreise grassierende Korruption einzudämmen sowie die einst hofierten, inzwischen rebellischen militanten Taliban zu zügeln. Ziemlich hilflos sieht sie den Selbstmordattentaten von Extremisten sowie dem erbitterten, oft blutigen Fanatismus zwischen islamischen Sekten zu.

Hinzu kommt, dass Geheimdienste und die Regierung in vielen Fällen nicht an einem Strang ziehen. Der mit Indien bestehende Kaschmir-Konflikt stellt eine Dauerbelastung dar. Dazu die Militäroffensive im Nordwesten und die zahlreichen sozialökonomischen Probleme eines Entwicklungslandes -- wie kann die Regierung in einer solchen Situation allein mit den auf 43 Milliarden Dollar geschätzten materiellen Schäden der Naturkatastrophe fertig werden? 647 000 Hektar Ackerland und Viehweiden, Brücken, Dämme und Deiche, Straßen und Brunnen sind zerstört, Millionen Nutztiere umgekommen. 600 000 Tonnen gelagerter Weizen, 200 000 Tonnen Reis sind verdorben. Auf lange Zeit wird nachhaltige internationale Hilfe notwendig sein.

Auch außenpolitisch hat Islamabad einen schweren Stand. Gerade feuerte der afghanische Sicherheitsberater Rangin Dadfar Spanta eine Breitseite gegen den Nachbarstaat. In der »Washington Post« vom Montag warf er Islamabad vor, eine Doppelrolle zu spielen, einerseits Milliarden Dollar Hilfe zu kassieren und andererseits bekannten terroristischen Gruppen Unterschlupf zu bieten. Er führte als Beispiele extremistische Gruppierungen wie die Quetta Shura, das Haqqani-Netzwerk, die Hekmatyar-Gruppe und Al Qaida an. Nahezu gleichzeitig ermahnten die USA Pakistan, ihren »Sonderpartner im Kampf gegen den internationalen Terrorismus«, weiter entschieden innerhalb seiner Grenzen gegen militante Extremisten vorzugehen. Islamabads Außenamtssprecher Abdul Basit wies freilich Spantas Auffassungen umgehend als »grundlose Beschuldigungen« zurück.

Von existenzieller Bedeutung für Pakistan ist das Verhältnis zum Nachbarn Indien. Der angestrebte Aussöhnungsdialog lässt weiter auf sich warten. Erst nach langem Zögern hatte Islamabad die Fluthilfe des verfeindeten Nachbarlandes angenommen. Indien hatte Pakistan Hilfsgüter im Wert von fünf Millionen Dollar angeboten; die US-Regierung hatte zur Annahme gedrängt und betont, bei der Reaktion auf eine Katastrophe sollte Politik keine Rolle spielen. »Die Regierung Pakistans ist übereingekommen, das indische Angebot anzunehmen«, hatte Außenminister Shah Mehmood Qureshi letztlich verkündet. Der Minister betonte zugleich am Rande einer UN-Sitzung zur Flutkatastrophe am vergangenen Donnerstag in New York: »Wir spielen keine Politik.«

Zahlen und Fakten

In den pakistanischen Überschwemmungsgebieten sind nach UN-Schätzungen 800 000 Bewohner von der Hilfe abgeschnitten. Sie seien nur über den Luftweg zu erreichen. Mindestens 40 Schwerlasthubschrauber wären nötig, um die zunehmend verzweifelten Menschen mit lebensrettenden Gütern zu versorgen, so Marcus Prior vom Welternährungsprogramm. »Diese beispiellosen Überschwemmungen stellen uns vor beispiellose logistische Herausforderungen«, erklärte der UN-Vizegeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfe-Koordinierung, John Holmes. So hat das UN-Flüchtlingskommissariat seinen Spendenaufruf verdreifacht. Statt 41 Millionen Dollar (32,3 Mio Euro) seien inzwischen 120 Millionen Dollar Soforthilfe nötig. Damit sollen Unterkünfte für zwei Millionen Menschen finanziert und eine weitere Million Haushalte mit dem Nötigsten versorgt werden. Sechs Millionen Menschen brauchten dringend Hilfe.

Die zusätzlichen Gelder erbittet das UN-Hilfswerk vor allem von Regierungen. Bisher seien rund 42 Millionen Dollar eingegangen. Auch die deutschen Gelder reichten nicht aus, betonte CARE Deutschland-Luxemburg. Zumal anhaltende Regenfälle weitere Regionen bedrohen.

Laut UNHCR ertranken bisher 1600 Menschen, über drei Millionen wurden obdachlos. 450 000 Häuser seien von der Flut beschädigt oder zerstört worden. In Zusammenarbeit mit Partnern hat die UNO nach eigenen Angaben bislang humanitäre Hilfe für 335 000 Betroffene geleistet und dabei 20 000 Zelte, 78 000 Schutzplanen, 105 000 Decken, 75 500 Schlafmatten, 23 000 Küchensets, 42 000 Moskitonetze und 43 000 Wasserkanister verteilt.

Mit einem Frühwarnsystem will die EU Pakistan vor weiteren derartigen Naturkatastrophen schützen. Die EU-Kommissarin für Humanitäre Hilfe, Kristalina Georgieva, stellte auf ihrer Reise in das südasiatische Land ein internationales Team zusammen, das mit den lokalen Behörden ein solches Alarmsystem entwickeln soll. ND



* Aus: Neues Deutschland, 26. August 2010


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