Weite Teile des Landes unter Wasser
Pakistan wird von den schwersten Überschwemmungen seit Menschengedenken heimgesucht / Bislang über 1300 Tote und riesige Schäden nach verheerenden Monsunregenfällen
Von Hilmar König *
Weite Gebiete Pakistans, vor allem im Nordwesten, werden seit fast zwei
Wochen von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht. Über 1300 Menschen
fielen der Katastrophe bislang zum Opfer, über eine Million Pakistaner
verloren Heim, Hab und Gut.
Wasser. Wasser. Wasser. Seit Jahren dürstet Pakistan nach dem
Lebenselixier. Mit dem Nachbarn Indien liegt man in heftigem Streit um
die Aufteilung des Wassers einiger Himalaja-Flüsse, die einen
beträchtlichen Teil der Landwirtschaft auf dem Subkontinent speisen. Und
nun das! Seit dem 22. Juli haben sich die Himmelsschleusen in einem Maße
geöffnet, an das sich nur die Uralten erinnern können. Einen so heftigen
Monsun hat es seit 80 Jahren nicht mehr gegeben.
Peschawar von der Umwelt abgeschnitten
Im Nordwesten fielen innerhalb von 36 Stunden in vielen Gebieten über
300 Liter Regen auf den Quadratmeter. Die Überschwemmungen richteten
unvorstellbare Schäden an. Es handelt sich nach Einschätzung des
nationalen Rettungsdienstes um eine der schlimmsten Flutkatastrophen.
Der indische Fernsehsender NDTV berichtete am Montag (2. Aug.) aus dem
Nachbarland von mindestens 1500 Toten in den vergangenen fünf Tagen, die
meisten in der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa. Opfer wurden aber auch in den
Provinzen Punjab, Belutschistan, den nördlichen Stammesgebieten und im
pakistanischen Teil Kaschmirs gemeldet.
Mujahid Khan, Sprecher der pakistanischen Hilfsorganisation Edhi,
telefonierte aus Peschawar, dass die Zahl der Toten auf 3000 steigen
könnte, »weil das Ausmaß der Zerstörungen so gewaltig ist«. Man könne
gegenwärtig nur fünf Prozent dessen an Hilfe leisten, was eigentlich
erforderlich ist.
Ebenfalls am Montag (2. Aug.) hieß es in der pakistanischen Tageszeitung
»The Daily Times«: »Der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa droht ein humanitäres
Desaster. Tausende rufen nach Nahrungsmitteln, Wasser und Obdach.
Flutopfer bezweifeln die Fähigkeit der Regierung, Hilfe in die
abgelegenen Gebiete zu bringen, da ihr das nicht einmal für die Vororte
Peschawars gelingt. Nach sechs Tagen wenig Anzeichen für Hilfe.«
Am härtesten heimgesucht von der Überschwemmungskatastrophe sind die
Regionen Swat, Shangla, Charsadda, Nowshera und Lower Dir. Mian Iftikhar
Hussain, Informationsminister der Provinz, sprach von 1100 Toten und 1,5
Millionen Betroffenen, die obdachlos wurden, all ihr Hab und Gut
verloren. Die Fluten rissen bisher 3700 Gebäude, ganze Dörfer und
Getreidespeicher weg. In der schwülen Hitze wächst unter katastrophalen
hygienischen Verhältnissen die Gefahr von Infektionskrankheiten. Hussain
teilte mit, es gebe erste Cholerafälle.
Tagelang saßen Obdachlose auf Bäumen oder retteten sich auf Dächer ihrer
Häuser. Andere wateten bis zum Bauch durch reißende Fluten. Hunderte
werden noch vermisst, mehr als 25 000 Menschen sind von der Umwelt
abgeschnitten. Brücken stürzten ein. Straßen, Strom- und Telefonnetze
wurden zerstört, riesige landwirtschaftliche Flächen überflutet.
Tausende Stück Vieh ertranken. Erdrutsche und Steinschläge in den
Gebirgsgegenden erschwerten Rettungseinsätze oder machten diese
unmöglich. Die Großstadt Peschawar ist von der Umwelt abgeschnitten.
Mohammed Awais aus dem Peschawarer Stadtteil Monim Ghari campierte in
den letzten Tagen im Freien auf einer höher gelegenen Straße. Er
beklagte sich gegenüber Reportern: »Von staatlicher Hilfe ist nichts zu
sehen. Ich muss Fremde um etwas Essen für meine Familie anbetteln.«
Regierung zeigt sich überfordert
Die Nationale Katastrophenschutzagentur gab bekannt, dass ihre
Rettungskräfte wegen der zerstörten Infrastruktur bislang in viele
Gebiete noch gar nicht vordringen konnten. 30 000 Soldaten sind mit
Hubschraubern, Gummibooten und Flößen im Einsatz. Sie evakuierten bis
Sonntag 28 000 von den Wassermassen eingeschlossene Menschen. Das sei
zwar eine beeindruckende Zahl, sagte Armeesprecher Generalmajor Athar
Abbas, aber angesichts der Dimension des Naturdesasters nicht ausreichend.
In der südlichen Provinz Sindh haben die Behörden in Erwartung der
Flutwelle die ersten Evakuierungen am Unterlauf des Indus eingeleitet.
Der Pegel der meisten Flüsse steigt immer noch und die Meteorologen
kündigten weitere Niederschläge an. Die Provinzregierungen haben
versprochen, den Betroffenen für eine gewisse Zeit Steuern sowie die
Rückzahlung von Krediten zu erlassen.
Die Regierung von Premier Jusuf Raza Gilani sieht sich harscher Kritik
ausgesetzt. Das änderte sich auch nicht, nachdem er das
Katastrophengebiet mit dem Hubschrauber überflogen hatte, um sich einen
Überblick zu verschaffen. Die Notleidenden bewerteten das lediglich als
eine leere, symbolische Geste. Viele Obdachlose beklagten beispielsweise
das Fehlen von Notunterkünften. Islamabad sei mit der Bewältigung dieser
Mammutaufgabe überfordert, hieß es in der Zeitung »Dawn«. Es gebe
Korruptionsvorwürfe, die sich auf die Verteilung von Hilfsgütern beziehen.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung angesichts des staatlichen Versagens
spiele Extremisten und militanten Gruppen in die Hände. In das
bestehende Vakuum sei die Jamaat-ud-Dawa, ein sich humanitär gebender
Ableger der militanten Lashkar-e-Toiba, bereits gestoßen und habe mit
cleverem Management und moderner Technik den Betroffenen unter die Arme
gegriffen.
Internationale Hilfe läuft an
Unterdessen gibt es internationale Hilfszusagen. Die UNO und die USA
haben je zehn Millionen Dollar, die Volksrepublik China 1,5 Millionen
Dollar versprochen, die Bundesregierung verdoppelte ihre Hilfe am
Wochenende auf eine Million Euro. Das Welternährungsprogramm kümmert
sich um die Versorgung von 35 000 Familien mit Lebensmittelrationen,
klagt jedoch darüber, dass die Fluten erhebliche Schäden an seinen
Lagerhallen angerichtet hätten, in denen Vorräte für Hilfseinsätze in
Pakistan und Afghanistan aufbewahrt wurden.
Die EU stellt 30 Millionen Euro Soforthilfe bereit. Vordringlich sollen
damit Notunterkünfte, Decken und die Trinkwasseraufbereitung finanziert
werden. Aber selbst das kann erst richtig greifen, wenn die betroffenen
Gebiete wieder einigermaßen zugänglich sind.
Lexikon - Asiens schwerste Flutkatastrophen in zwei Jahrzehnten
1991 China: Im Zentrum und im Osten sterben zwischen Juni und September
3000 Menschen durch Überschwemmungen.
1992 Pakistan: Mehr als 3000 Tote und Vermisste nach Monsunregen im
September
1993 Nepal, Bangladesch, Indien: Monsunregen im Juli führt zu
Überschwemmungen, bei denen 2000 Menschen in Nepal, 1000 in Bangladesch
und Indien ums Leben kommen.
1993 China: In der Regenzeit zwischen Juni und September sterben 3300
Menschen.
1994 China: Im Juni und Juli mehr als 2000 Überschwemmungstote vor allem
im Süden Chinas
1996 China: Rund 3000 Flutopfer in neun zentralen Provinzen im Juli/August
1998 Pakistan: Durch Überschwemmungen sterben im März im Südwesten 1500
Menschen.
1998 China. In Süd- und Zentralchina kommen von Mai bis August 4000
Menschen ums Leben, die meisten am Jangtse; die schwersten
Überschwemmungen ereigneten sich dort 1954, als 30 000 Menschen starben.
1998 Indien: 2000 Überschwemmungstote zwischen Juni und September im
Norden und Osten des Landes
1998 Bangladesch: Rund 2000 Tote und mehr als 30 Millionen Obdachlose
durch Überschwemmungen zwischen Juli und September
2007 Bangladesch: Mehr als 1000 Tote und 2,5 Millionen Flüchtlinge durch
Monsunregen zwischen Juni und September
2007 KDVR: Mindestens 600 Tote und Vermisste nach schweren Regenfällen
im August
2009 Taiwan: Bei Überschwemmungen, die durch einen Taifun im August
ausgelöst werden, sterben 614 Menschen.
Die größte Naturkatastrophe in Asiens jüngster Geschichte war der
Tsunami, der im Dezember 2004 in rund einem Dutzend Ländern mehr als 226
000 Menschen tötete. AFP/ND
* Aus: Neues Deutschland, 3. August 2010
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