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Nicht eingelöste Versprechen

60 Jahre unabhängig: Pakistan folgte nicht dem vom Staatsgründer vorgezeichneten Kurs

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Am Vorabend der Geburt des Staates Pakistan sprach Mohammed Ali Jinnah, der »Vater der islamischen Nation«, am 11. August 1947 ein paar Sätze, die Hoffnung machten. Er sagte, um ein prosperierendes Pakistan zu schaffen, müsse man sich auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse, besonders der Armen, konzentrieren. »In diesem Staat Pakistan«, so Jinnah, »seid ihr frei, frei, in eure Tempel oder Moscheen oder in andere Gebetsstätten zu gehen. Welcher Religion, Kaste oder Konfession ihr auch angehören mögt, ist nicht Sache des Staates. Im Laufe der Zeit werden Hindus aufhören, Hindus zu sein und Muslime aufhören, Muslime zu sein – nicht im religiösen Sinne als dem persönlichen Glauben eines Individuums, sondern im politischen Sinn als Bürger einen Staates.« Gedanken, die damals Erstaunen auslösten und bis heute kontrovers bewertet werden. Pakistans Herrscher – 32 der 60 Jahre waren es Generäle – folgten nicht dem von Jinnah empfohlenen sozialökonomischen und die Religionen tolerierenden Kurs.

Heute prägt eine tiefe politische Krise die islamische Republik. Der Präsident, General Parvez Musharraf, ist angeschlagen, obwohl er nach wie vor das Vertrauen des Militärs besitzt. Er mußte die Wiedereinsetzung von Chefrichter Iftikhar Chaudhry hinnehmen, den er im März eigenmächtig »suspendiert« hatte. Beeindruckende Protestdemonstrationen, die mehr und mehr die Form einer Bürgerrechtsbewegung annahmen und auf denen Musharrafs Abdankung und demokratische Verhältnisse gefordert wurden, hatten zu diesem Resultat geführt.

Die schwere Schlappe kam dem General umso ungelegener, als er sich seit dem Sturm auf die von radikalen Koranschülern und Militanten besetzte Rote Moschee vom 10. Juli einer Serie selbstmörderischer Sprengstoffatten­tate ausgeliefert sieht. Die Militäroperation gegen die Moschee in Islamabad kostete mindestens 100 Menschenleben. Der Welle von Attentaten fielen bislang über 200 Menschen zum Opfer. Musharraf muß sich zudem in den an Afghanistan grenzenden Provinzen mit Stammesmilizen auseinandersetzen, deren Sympathie für Al Qaida und die Taliban kein Geheimnis ist. Washington droht deshalb mit einem direkten Militärschlag auf pakistanischem Territorium, um dort vermutete Al-Qaida-Führer zu töten.

Mit seiner Vision von einem »erleuchteten, moderaten Islam« für Pakistan stößt der Präsident bei der religiösen Parteiallianz ­Muttahida-­Majlis-e-­Amal auf keine Gegenliebe. Diese bildet im Parlament einen starken konservativen Oppositionsblock, gibt in der Nordwest-Grenzprovinz und in Belutschistan den Ton an und sorgt dort für eine Talibanisierung der Gesellschaft. Die bürgerlichen politischen Parteien und Menschenrechtler fordern ein Ende der Militärherrschaft und ein ziviles Staatsoberhaupt. Doch der General will sich im Herbst nochmals wählen lassen und Präsident in Uniform bleiben.

Daß Jinnahs Wunsch, sich auf die Armen zu konzentrieren, ignoriert wurde, zeigen die sozialökonomischen Verhältnisse. Khalid Bhatti vom pakistanischen Socialist Movement zählt in einem Pressebeitrag viele Schwachpunkte auf. So Arbeitslosigkeit, ein verkommendes feudalistisches System auf dem Lande, extreme Ausbeutung, Repression, Hunger und chronische Armut. 88 Prozent der 164 Millionen Pakistaner müssen mit weniger als zwei Euro am Tag auskommen. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt ohne ordentliche medizinische Betreuung und ohne sauberes Trinkwasser unter miserablen hygienischen Bedingungen. Das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen wird auf 736 Dollar geschätzt. Im Jahre 2006 betrug die Arbeitslosenrate 6,5 Prozent, die Inflationsrate 7,9 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung kann nicht lesen und schreiben. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer wird mit fast 63, die der Frauen mit fast 65 Jahren angegeben.

Grund zum Feiern des Unabhängigkeitsjubiläums gibt es da kaum, zumal das Erbe aus drei Kriegen mit Indien, 1971 der Verlust Ostpakistans (das heutige Bangladesch), der ungelöste Kaschmirkonflikt sowie immer wieder aufbrechende blutige Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten auf dem Land lasten.

* Aus: junge Welt, 10. August 2007


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