Zerreißprobe in Osttimor
Indonesien weist Verantwortung für anhaltende Unruhen zurück
Von Carsten Hübner, Dili*
Äußerungen des osttimorischen Regierungschefs Mari Alkatiri über eine mögliche Verwicklung
Indonesiens in die Ausschreitungen in Osttimor haben zu einem heftigen diplomatischen
Schlagabtausch mit Jakarta geführt.
In einer Erklärung warnte Indonesiens Präsident Susilo Bambang Yudhoyono vor einer nachhaltigen
Belastung der Beziehungen. Alkatiri hatte in einem Interview pro-indonesische Milizen, ehemalige
Angehörige des Besatzungsregimes und »eine dritte Partei« beschuldigt, für die blutigen Unruhen
verantwortlich zu sein. Yudhoyono wies den Vorwurf entschieden zurück. Indonesien habe im
Gegenteil alles unternommen, um zu einer Entspannung der Situation beizutragen. Sein Land sei an
guten Beziehungen zu Osttimor interessiert. Er forderte Alkatiri auf, seine Behauptungen
zurückzunehmen. Das hat dieser inzwischen jedoch abgelehnt.
Tatsächlich gibt es eine Reihe von Hinweisen, dass Angehörige und Sympathisanten des
ehemaligen Besatzungsregimes an maßgeblicher Stelle in die Auseinandersetzungen verwickelt
sind. So hatte eine Bande über Wochen das Flüchtlingslager Don Bosco am Rande der
osttimorischen Hauptstadt Dili belagert und wiederholt angegriffen. Nach der Verhaftung ihrer
Anführer stellte sich heraus, dass es sich bei den Männern um frühere Angehörige der
indonesischen Armee TNI handelt. Im Ausbildungszentrum des Salesianer-Ordens haben seit
Ausbruch der Kämpfe Ende April rund 13 000 Menschen Zuflucht gesucht.
Im Stadtteil Becora im Osten Dilis berichten Anwohner, der Terror gehe vor allem von einer Gruppe
aus, die enge Verbindungen zu Major Alfredo Reinaldo habe. Reinaldo ist der Anführer von 600
meuternden Soldaten der osttimorischen Armee. Sie wurden nach Protesten aus dem Dienst
entlassen und stammen überwiegend aus dem Westteil des Landes. Die Armeeführung Osttimors
verdächtigt sie der Nähe zu früheren pro-indonesischen Milizen. In Folge der Überfälle haben
inzwischen fast alle aus dem Ostteil des Landes stammenden Bewohner Becora verlassen. Viele
Häuser wurden geplündert oder niedergebrannt.
Rund 2000 Anhänger Reinaldos hatten Anfang der Woche in Dili für den Rücktritt von
Ministerpräsident Alkatiri demonstriert. Der Rebellenführer selbst forderte ihn inzwischen ultimativ
auf, bis zum 28. Juni sein Amt niederzulegen. Er macht ihn persönlich für ein Massaker der Armee
an unbewaffneten Polizisten verantwortlich, bei dem nach unterschiedlichen Angaben zwischen
sechs und achtzig Menschen starben. Alkatiri hat inzwischen einer Untersuchung des Vorfalls
zugestimmt, an der auch internationale Ermittler und Staatsanwälte teilnehmen sollen. Einen
Rücktritt lehnt er jedoch weiterhin ab.
Auch ein Zwischenfall aus der Kleinstadt Ermera westlich von Dili deutet auf Aktivitäten ehemaliger
Milizionäre hin. Hier wurde Ende dieser Woche das Parteibüro der Fretilin in Brand gesetzt. Es war
der erste ernsthafte Zwischenfall außerhalb der Hauptstadt. Beobachter befürchten nun eine
Ausbreitung der Unruhen auf andere Landesteile. Die Fretilin, die seit 1975 den Befreiungskampf
gegen die indonesische Besatzung angeführt hatte, ist seit den Wahlen vom 30. August 2001 an der
Regierung. Ihr gehört auch Ministerpräsident Alkatiri an. Ermera war eine Hochburg der Milizen.
Infolge der anhaltenden Auseinandersetzungen verschärft sich in Osttimor die Situation zwischen
den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Alte Wunden aus der Zeit der indonesischen
Besatzung sind wieder aufgerissen. Konflikte werden offensichtlich gezielt geschürt und kanalisiert.
Gerüchte und Vorurteile haben Hochkonjunktur. Gleichzeitig agiert die Regierung halbherzig oder
versucht unter dem Motto zu beschwichtigen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Zu einer
Sondersitzung des Parlaments Anfang der Woche erschienen gerade mal zwei Drittel der
Abgeordneten. Aus Sicherheitsgründen, wie Parlamentspräsident Francisco Guterres beteuerte.
Das Horrorszenario eines Bürgerkriegs zwischen dem Ost- und dem Westteil liegt in der Luft. Häufig
ist zu hören, die Lage sei schlimmer als im Jahr 1999, als die Insel nach dem
Unabhängigkeitsreferendum von proindonesischen Milizen und der indonesischen Armee fast
vollständig zerstört wurde und rund 1400 Menschen ums Leben kamen. Damals seien die Fronten
wenigstens klar gewesen. Heute hingegen könne jeder der Gegner sein.
Das internationale Militär beschränkt sich derweil weitgehend auf die Befriedung des Zentrums von
Dili und den Schutz wichtiger Infrastruktur. Die Wohnviertel dagegen befinden sich nach Einbruch
der Nacht in der Hand bewaffneter Gruppen, die plündern und brandschatzen. Der Konflikt droht
eine Gesellschaft zu zerreißen, die sich nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes voller
Hoffnung auf den Weg gemacht hatte. Das ist erst wenige Jahre her und dennoch kaum mehr zu
spüren. Die Hauptverantwortung dafür liegt in Dili. Statt Beschwichtigungsgesten braucht es eine
aktive Politik der Versöhnung und der Gerechtigkeit. Aber auch die internationale Gemeinschaft ist in
der Pflicht. Sie muss klare Signale an Indonesien setzen, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Der
Vorschlag von UNO-Generalsekretär Kofi Annan, die Präsenz internationaler Polizeikräfte in
Osttimor deutlich zu erhöhen, könnte ein Schritt zur Beruhigung der Situation sein.
* Aus: Neues Deutschland, 10. Juni 2006
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