Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hauptsache, wir haben die Story zuerst!

Obgleich man nach dem Massaker wenig wusste, spekulierten die "Experten" munter drauflos

Von Robert Meyer *

Die Berichterstattung über das Massaker eines Rechtsradikalen in Norwegen entlarvt den deutschen Journalismus. Auch öffentlich-rechtliche Sender bilden keine Ausnahme.

In Zeiten weltweiter digitaler Vernetzung haben sich die Medien auf einen Wettstreit eingelassen, in dessen Folge die Wahrheit nicht selten geopfert wird. Besonders im Zuge unvorhersehbarer Ereignisse zählt in der Logik der marktwirtschaftlichen Nachrichtenverwertung die Exklusivität einer Meldung häufig mehr als deren gründliche Überprüfung auf stichhaltige Fakten. Paart sich dieser Umstand mit einem Ereignis, dessen Tragweite und Folgen nicht abzuschätzen sind, bildet dies den idealen Nährboden für Spekulationen.

Genau dieses Geschäft sollte ein guter Journalist allerdings meiden. Doch die Schnelllebigkeit seiner Branche zwingt ihn geradewegs zu einem Balanceakt, den er ohne tiefen Fall nicht überstehen kann: Auf Fragen soll er unmittelbar Antworten finden, Hintergründe eines Ereignisses beleuchten, noch bevor den Menschen am eigentlichen Ort des Geschehens klar ist, was um sie herum gerade passiert.

Gegen 15.30 Uhr liefen am Freitagnachmittag (22. Juli) über die Nachrichtenticker der Redaktionen die ersten Agenturmeldungen über eine Explosion in der Osloer Innenstadt. Informationen über den Tathergang oder die Hintermänner gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, weshalb sich die norwegischen Behörden in den ersten Stunden nach dem Anschlag auch mit der Herausgabe von Fakten zurückhielten. Doch für manchen Medienmacher scheint nichts schlimmer als eine Geschichte, zu welcher es kein verwertbares Material gibt.

Sogleich stürzten sich private und öffentlich-rechtliche Sender in eine mehrstündige Live-Berichterstattung, in deren Folgen die Mär von einem islamistischen Terroranschlag geboren wurde. Selbst der sonst für seine zurückhaltende Art bekannte öffentlich-rechtliche Informationskanal Phoenix betrieb mit eilig herbeigerufenen »Terrorexperten« wüste Spekulationen.

Noch nicht einmal die später eintreffende Meldung über eine Schießerei auf der Insel Utøya, die sich am späten Abend als ein blutiges Massaker herausstellen sollte, konnte die Medien und deren »Terrorexperten« von ihrer Theorie vom rachsüchtigen Moslem abbringen. Dabei hätte spätestens jetzt jedem qualifizierten Experten klar sein müssen, dass das Vorgehen islamistischer Terrororganisationen nicht ins Muster der Ereignisse in Norwegen passte.

Man hätte nur zuhören müssen, was die Osloer Polizei bereits in einer ihrer ersten Pressekonferenzen verkündete. Die norwegischen Behörden gingen bereits am frühen Freitagabend davon aus, dass der Anschlag mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Konto eines Inländers geht. Deutschen »Terrorexperten« war dies noch immer nicht eindeutig genug, sodass ihre Spekulationen weiter in die völlig falsche Richtung gingen. So vertrat der von der Nachrichtensprecherin Maybrit Illner als »ZDF-Terrorismusexperte« angekündigte Elmar Theveßen noch im »Heute-Journal« kurz nach 22 Uhr die These eines wahrscheinlich islamistischen Hintergrundes, obwohl sich die dazu herangezogenen Indizien längst in Luft aufgelöst hatten.

Doch nicht nur in den Nachrichtensendungen der Sendeanstalten wartete man mit fragwürdigen Interpretationen des Geschehens auf. Die Berichterstattung der meisten Onlineableger großer Zeitungen ging in die gleiche Richtung. So wollte »Welt Online« schon am Freitag die Drahtzieher hinter den Anschlägen ausgemacht haben. Sich auf der richtigen Spur wähnend, heißt es unter der Überschrift »Norwegen ist Zielscheibe für Islamisten« wenig zurückhaltend: »Al-Qaida und andere Terrror-Organisationen haben Norwegen längst ins Visier genommen. Schlüsselfigur könnte ein kurdischer Islamisten-Führer sein.« Die besagte Person hatte mit dem Massaker nichts zu tun.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011


Zurück zur Norwegen-Seite

Zur Terrorismus-Seite

Zur Rassismus-Seite

Zur Medien-Seite

Zur Seite "Islam, Islamophobie"

Zurück zur Homepage