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"Es scheint, als wolle Breivik einen Bürgerkrieg in Europa entfachen"

Der Philosoph Helge Hoibraaten hält den Attentäter nicht nur für einen Verrückten


Der 65-jährige norwegische Philosoph Helge Hoibraaten verbrachte die größte Zeit seiner Karriere an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität in Trondheim. Zwischen 2004 und 2009 hatte er eine Gastprofessur an der Humboldt-Universität. Für das "Neue Deutschland" (ND) sprach Antje Stiebitz mit ihm.

ND: Die Fortschrittspartei gilt in Norwegen als gesellschaftsfähig. Anders Behring Breivik war sechs Jahre ihr Mitglied. Ist rechtes Gedankengut in Norwegen salonfähig geworden?

Hoibraaten: In dem Sinne, dass die Fortschrittspartei jetzt viele Wähler hat, ist das wahr. Allerdings stellt die Fortschrittspartei eine Mischung aus extremem Wirtschaftsliberalismus einerseits und Kulturautoritarismus auf der anderen Seite dar. Der Terrorist gehört eindeutig zur letzten Sorte. Er hegt keine Sympathie für die liberale Gesellschaft und auch nicht für die USA. Aber es scheint so, als wolle Behring Breivik in Europa einen Bürgerkrieg entfachen.

Einen Bürgerkrieg gegen wen?

Gegen die Muslime. Europa sei halb besetzt von Muslimen und man müsse zurückschlagen, das ist seine Idee. Deswegen war er erst in der Fortschrittspartei und ist dann ausgetreten, um sich seiner Arbeit von 1500 Seiten zu widmen. Er hat sich bewusst aus der Politik zurückgezogen. Er kleidet sich als Kulturkonservativer, aber in einem anderen Sinne als diese.

Bei uns gilt Norwegen als modern, gleichzeitig aber auch als traditionalistisch. Wo steht Norwegen Ihrer Meinung nach?

Norwegen ist ein ganz modernes Land. Norwegen war von der Tradition des Volkes eher links gerichtet und demokratisch angelegt.

Was hat sich in Norwegen, oder auch in Skandinavien, verändert?

Da kommt eine Einwanderungswelle und unsere Gesellschaften sind klein, sind homogen. Zwar fortschrittlich, aber das ist ein langer Prozess gewesen. Ich will jetzt nicht überinterpretieren, was geschehen ist. Da ist ein Mensch und er hat sich in das öffentliche Diskussionsklima eingemischt. Momentan wird im Internet sehr lebendig diskutiert – das hat nicht nur schlechte Aspekte, das möchte ich betonen. Das trägt viel dazu bei, dass Intellektuelle und die norwegische Bevölkerung zusammengekommen sind. Da wird hart debattiert.

Sie meinen, der Anschlag bringt Norwegen wieder zusammen?

Also einige sagen jetzt, dass der Anschlag von einem Irren, der sich für Gott hält, durchgeführt wurde. Und dass so jemand rein gar nichts mit der norwegischen politischen Kultur zu tun hat. Andere sagen allerdings, dass da etwas nicht stimmt im Staat Norwegen. Das kann man jetzt noch nicht beurteilen. Aber ich bin entschieden dagegen, ihn nur als einen Verrückten zu betrachten.

Als was wollen Sie ihn betrachten?

Er hat eine Tat begangen, die unvergleichlich ist. Aber ausschlaggebend ist, dass er dazu 1500 Seiten schreibt. Und diese Seiten werden von Menschen gelesen. Wir müssen uns mit diesen Ideen beschäftigen.

Bei uns gilt Norwegen als Paradebeispiel für einen sozialen und gerechten Staat. Warum tauchen gerade jetzt starke rechtsextreme Kräfte auf?

Meiner Ansicht nach sind die rechtsgerichteten Kräfte zumindest teilweise durchaus Freunde des Wohlfahrtsstaates. Und sie sind der Meinung, dass uns die Minoritäten, die nach Norwegen kommen, die Errungenschaften des Sozialstaats stehlen, dass die Einwanderer begünstigt werden.

Das ist zumindest ihre Argumentationslinie. Für diese Menschen ist klar, dass sie den Wohlfahrtsstaat irgendwie verteidigen müssen.

Der Sozialstaat muss gegen die Einwanderer verteidigt werden? Braucht Norwegen seine Einwanderer nicht?

Ja, meiner Ansicht nach braucht Norwegen Einwanderer. Eigentlich sind viele dieser Meinung, zumindest wenn es um Spezialisten geht. Aber viele wollen die Migranten aus der dritten Welt ausgrenzen. Bitte missverstehen Sie mich nicht. Das sind Prozesse, die hier entstanden sind. Für uns ist das eine große Überraschung. Wenn so etwas in Deutschland geschehen wäre, wären Sie auch ein bisschen erschrocken.

Natürlich.

Und es geht nicht nur gegen die Einwanderer, sondern auch um die Finanzierungsmöglichkeiten in der Zukunft, bei einer alternden Bevölkerung.

Existiert denn das Modell des Wohlfahrtsstaates in Norwegen noch, oder ist es vielleicht in den letzten Jahren auch abgebaut worden?

Es ist schon ein bisschen abgebaut worden. Und vor allem stellt sich auch die Frage, wie es in Zukunft finanziert werden kann. Das wird momentan überall thematisiert.

Also geht es generell um die Angst des sozialen Abstiegs?

Ja, ich glaube, es ist klar, dass das die Wurzeln der Aggression gegen Ausländer sind. Aber man kann auch nicht sagen, dass das Volk in dieser Frage mit einer Stimme spricht. Es gibt verschiedene Gruppen, und es ist ein bisschen Volkes Stimme.

Wie schätzen Sie die künftigen Entwicklungen ein?

Nun wollen wir mal sehen, wie das mit der Fortschrittspartei in einem oder zwei Jahren weitergeht nach diesen Prozessen hier. Gerade ist vieles gleichzeitig geschehen. Die Fortschrittspartei hat in Meinungsumfragen an Stimmen verloren. Wir werden sehen, wie es empirisch weiterläuft.

Die klassischen Konservativen sind jetzt in der Offensive und werden wahrscheinlich die nächste Regierung stellen, wenn die Sozialdemokraten verlieren würden. Andererseits kann es sein, dass die Sozialdemokraten, jetzt, da sie angegriffen worden sind – das war ja ein Angriff auf die Sozialdemokratie –, daraus einen Nutzen ziehen. Aber das wissen wir jetzt noch nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011


"Allerdings gibt es einen Nährboden"

Ohne ein rechtspopulistisches Milieu wären die Attentate von Oslo und Utøya nicht denkbar. Ein Gespräch mit Prof. Hajo Funke **

Hajo Funke ist Rechts­extremismusforscher und Professor der Politik­wissenschaft der Freien Universität Berlin.

Der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik, der mit seinen Anschlägen auf das Jugendlager in Utøya und das Regierungsviertel in Oslo fast 100 Menschen umgebracht hat, bezeichnet sich als fundamentalistischen Christen, sieht sich im Kreuzzug gegen die multikulturelle Gesellschaft, den Islam und linke Demokraten. Wer bereitet den Boden für solchen rechten Terror?

Den hat die labile und größenwahnsinnige Persönlichkeit des Täters selbst bereitet – allerdings gibt es einen Nährboden aus verschiedenen Ideologien der neuen Rechten, von denen er Teile zusammengeklaubt und in seinem Pamphlet im Internet veröffentlicht hat. Dazu gehört, daß Migration – wo immer sie herkommt, besonders aber aus der islamischen Welt – die Identität Europas, der europäischen Zivilisation, der Nationalstaaten und des Christentums zerstöre. So argumentiert der norwegische Attentäter. Das bedeutet: Ohne ein rechtspopulistisches und fremdenfeindliches Milieu wäre er nicht zu dieser Radikalisierung gekommen.

Im Internet hat er sich auf Henryk M. Broder und Thilo Sarrazin bezogen. Sind sie insofern als geistige Brandstifter zu bezeichnen?

Natürlich kann man niemanden als unmittelbar verantwortlich für diese Taten bezeichnen. Die Anschläge sind aus seiner eigenen radikalisierten Überzeugung entstanden, in der Radikalität vergleichbar mit dem historischen Nationalsozialismus – das ist bei den zitierten Persönlichkeiten anders. Davon abgesehen ist jedoch zu sagen: Thilo Sarrazin etwa, auf den ich mich hier beschränken möchte, wirkt mit seiner falschen Generalisierung verunglimpfend und zeigt ein rassistisches Denken, wenn er einer ganzen Gruppe unterstellt, sie sei nur dazu fähig, »Kopftuchmädchen zu produzieren«.

Der 32jährige Norweger war aber nicht in der Neonaziszene unterwegs, sondern im gemäßigten rechten Umfeld ...

Schon. Die Tat ist aber in ihrer Radikalität besonders verabscheuungswürdig – und insofern nicht auf Ideologen wie Broder oder Sarrazin zurückzuführen.

Breivik war aktives Mitglied in der gemäßigt rechtspopulistischen Fortschrittspartei in Norwegen – welche Positionen könnten als Hintergrund für ein Klima gewertet werden, das solche Gewalttaten fördert?

In der Zeit, in der Breivik in der Fortschrittspartei aktiv war, war Carl Ivar Hagen Vorsitzender, der besonders fremdenfeindlich agiert hat. Er beschränkte sich nicht auf die sogenannte Steuerrebellion nach dem Motto »Wir wollen mit dem Sozialstaat nichts zu tun haben«, sondern hat vor allem gegen die Migranten gehetzt. Die Rechtspopulisten in den skandinavischen Ländern haben sich in ihren Anfängen gegen Steuern verwahrt – und später radikale Töne gegen Einwanderung angeschlagen. Damals hat diese norwegische Partei 14 Prozent erreicht; bei den vergangenen Wahlen über 20 Prozent. Rechtspopulistische Strömungen nehmen zu und sind eine Gefahr für die demokratische Kultur Europas.

Gibt es in Deutschland entsprechendes Potential?

Zieht man Umfragen heran, die sich auf fremden- oder islamfeindliche Einstellungen beziehen, kommt man auf einen Anteil von 20 bis 40 Prozent. Daß es bisher deutschlandweit keine breitenwirksame rechtspopulistische Partei gegeben hat, hängt mit der Beschaffenheit unseres Parteiensystems zusammen: Die rechtsextreme NPD hat rechtspopulistische Parteien wie die Republikaner in den Schatten gestellt. Zudem hat auch die CDU rechtspopulistische Auswüchse; man denke nur an Roland Kochs ausländerfeindliche Kampagnen in Hessen. Die Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus der CDU/FDP-Regierung halte ich für grundsätzlich falsch. Die Gründe für linke Proteste sind völlig andere als die eines rassistischen Rechtspopulismus – eine Gleichsetzung vernebelt insofern die Probleme, die wir mit dem Rechtsextremismus haben.

Das Bündnis »Rechtspopulismus stoppen« hat am Montag vor der norwegischen Botschaft in Berlin gegen eine Mahnwache von »Pro Deutschland« protestiert, weil die Organisation mit ihrer rassistischen Propaganda Mitverantwortung trage. Wie sehen Sie das?

Wenn sie sich eindeutig gegen das Attentat wendet, ist das zu begrüßen – die Organisation muß aber prüfen, ob das Material, das der Attentäter zur Begründung seiner Tat verwendet, ihr nicht zu denken gibt. Konsequent wäre, ihre islamfeindliche Agitation jetzt auf den Prüfstand zu stellen und aufzugeben.

Interview: Gitta Düperthal

** Aus: junge Welt, 26. Juli 2011


Kampf gegen "Eurabia"

Der norwegische Massenmörder Breivik wähnt sich als »Kreuzritter« wider die vermeintliche Islamisierung Europas. Er bezieht sich auch auf etablierte Publizisten

Von Knut Mellenthin ***


Der Bombenanschlag in Oslo und das Massaker auf der norwegischen Insel Utøya mit mehr als 90 Toten haben viele Inspiratoren. Sie tragen Namen wie Bat Ye’or, Robert Spencer, Bruce Bawer, Fjordman – das Pseudonym eines unbekannten Vielschreibers –, Ted Kaczynski (bekannter als »Unabomber«) und Henryk M. Broder. Die Doktorarbeit eines durchschnittlichen deutschen Politikers enthält mehr Selbstverfaßtes als das 1500 Seiten starke »Manifest«, das Anders Behring Breivik kurz vor seinen Mordtaten am vergangenen Freitag unter dem Titel »2083 – A ­European Declaration of Independence« (»Eine europäische Unabhängigkeitserklärung«) verschickte. Diese mit tagebuchartigen Aufzeichnungen angereicherte Collage besteht überwiegend aus einkopierten Textblöcken der Lieblingsautoren von Breivik. Der Blogger Fjordman, der im »Manifest« besonders häufig auftaucht, hat seinerseits lange Artikel geschrieben, die fast nur aus Zitaten anderer Verfasser der rechten Antimoslemszene bestehen. Eine Reihe von wörtlichen Übernahmen, so etwa vom »Unabomber«, hat Breivik in seinem Sammelsurium nicht einmal als solche gekennzeichnet.

Der Massenmörder lebte offenbar seit Jahren in einer wahnhaften Parallelwelt, die sich mit dem hauptsächlich von Gisèle Littman – sehr viel bekannter unter ihrem Künstlernamen Bat Ye’or – geprägten Schlagwort »Eurabia« kennzeichnen läßt. Die in Ägypten geborene Autorin behauptet, daß seit der sogenannten Ölkrise von 1973 eine geheime Verschwörung zwischen den europäischen und arabischen Eliten bestehe. Europa habe sich dadurch vom Bündnis mit den USA gelöst und sei »in den arabisch-islamischen Bereich hinübergewechselt«. Aus demselben Grund führe Europa einen »versteckten Krieg gegen Israel«. Als hervorragenden Beweis für diese total abgedrehte These führt Bat Ye’or an, daß die Europäer die Forderung nach einem Palästinenserstaat akzeptieren.

Ein unübersehbares Netz von Webseiten propagiert die »Eurabia«-Wahnvorstellungen und treibt auf dieser Linie rechtspopulistische »Volksaufklärung«. Die Artikel des deutschen Journalisten Henryk M. Broder, den es mittlerweilen vom Spiegel zu Springers Welt verschlagen hat, werden dort vielfach zitiert. Broder, der weltanschaulich sehr wenig Originelles beizutragen hat, gilt der Szene als Kronzeuge für die Behauptung, daß die europäischen Staaten, die Regierungen ebenso wie die Bevölkerungen, vor der wahnhaft eingebildeten Machtübernahme durch den Islam längst feige und opportunistisch kapituliert hätten. Broder trifft sich in seinem hartnäckig strapazierten Dauerthema mit Bat Ye’or, die sogar meint, der gegenwärtige »Verrat« der europäischen Eliten sei noch schlimmer als das britisch-französische Einknicken vor Hitler in München 1938.

Breiviks Massenmord ist eine vermutlich von den Autoren nicht beabsichtigte, aber durchaus logische und daher letztlich voraussehbare Reaktion auf dieses Weltbild. Aus den Einträgen des jetzt 32jährigen in verschiedenen rechten Blogs wird deutlich, daß er sich schon seit langem mit der Frage beschäftigte, wie angesichts der unterstellten allgemeinen Kapitulation Europas vor dem Islam von mutigen und entschlossenen Einzelnen gegengesteuert werden könnte. Daß er sich in die Rolle eines Kreuzritters hineinphantasierte, der nicht nur legitimiert, sondern geradezu verpflichtet sei, grausame, aber notwendige Mordtaten in großem Stil zu begehen, stellte seine individuelle Antwort auf den aggressiven Feigheitsvorwurf der »Eurabia«-Ideologen dar.

Aus Breiviks Aufzeichnungen läßt sich schlußfolgern, daß er mit dem Massaker in einem Sommerlager der Jungsozialisten mehrere Ziele zu erreichen hoffte: Erstens öffentliche Aufmerksamkeit für die in seinem »Manifest« zusammenkopierte rassistische, antimoslemische und nicht nur antilinke, sondern auch antiliberale Weltanschauung. Zweitens Provozierung von »Überreaktionen« der Gegenseite, insbesondere von jungen Moslems und von Linken, die dann propagandistisch ausgeschlachtet werden könnten. Nach seinen eigenen Angaben hatte der Norweger diese »bewußte Strategie« schon mit Erfolg der britischen EDL empfohlen, die ausländerfeindliche Krawalle gern unter israelischen Fahnen stattfinden läßt. Drittens scheint Breivik auch die Tatsache, daß den Rassisten aufgrund seines Massenmords zunächst einmal der Wind ins Gesicht bläst, ins Kalkül einbezogen zu haben: Aus seiner durch Blogeinträge dokumentierten Sicht besteht die rechte Szene überwiegend aus Sprücheklopfern, die vor entschlossenen Aktionen zurückschrecken. Hier eine Radikalisierung herbeizuführen, indem die Szene jetzt unter härteren staatlichen und öffentlichen Druck gerät, erscheint im Kontext von Breiviks Wahnvorstellungen geradezu logisch.

Mißtrauen ist indessen geboten gegenüber allem, was der Massenmörder über sich selbst und seine Verbindungen erzählt. Allzu vieles erscheint ausgedacht und inszeniert. Das gilt besonders, aber nicht nur für das Facebook-Profil, das er wenige Tage vor seiner »Aktion« in mehrstündiger Arbeit zusammenstückelte. Zum Beispiel wird Breiviks Behauptung, er habe im April 2002 in London an der Gründung eines »Templerorden« genannten Geheimbundes teilgenommen, gerade dadurch, daß er dies offen berichtet, eher unwahrscheinlich.

*** Aus: junge Welt, 26. Juli 2011


"Es ist unglaublich ..."

Ein Land steht unter Schock und sucht nach den Ursachen der Wahnsinnstat vom Freitag

Von Hans-Gerd Öfinger, Bergen ****


Am dritten Tag nach dem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel und dem Massaker auf der Insel Utøya kann in Norwegen von einer Rückkehr zur Normalität nicht die Rede sein. Auch in der Hafenstadt Bergen gedachte man der Opfer und diskutierte, welche Konsequenzen aus der Bluttat zu ziehen sind.

Punkt zwölf Uhr Mittags kam am Montag (25. Juli) das öffentliche Leben bei einer landesweiten Schweigeminute zum Stillstand. So auch im Bahnhof der Kleinstadt Voss im Westen des Landes, wo die Bediensteten der norwegischen Staatsbahn NSB das Reisezentrum vorübergehend schlossen und im Stillen der Opfer von Freitagnachmittag gedachten. Der Frühzug der Bergenbahn, die die Hauptstadt Oslo mit der alten Hansestadt Bergen verbindet, hielt mitten auf dem Fjell, dem norwegischen Hochgebirge, und kam dementsprechend mit gut zehn Minuten Verspätung in der verregneten Hafenstadt an.

Eine von vielen Menschen in der Stadt, die am zentral gelegenen Øvre-Ole-Bulls-Platz Blumen niederlegten, war Christine Henne Helmbek. Sie arbeitet im Speisewagen der Bergenbahn und begab sich nach Dienstschluss direkt in die Stadtmitte. Wo am Sonnabendnachmittag zunächst nur wenige Blumen und Kerzen als Zeichen der Trauer lagen, häuften sich hunderte Blumen und persönliche Widmungen.

»Es ist unglaublich, dass ausgerechnet das Land, das jedes Jahr den Friedensnobelpreis vergibt, den größten individuellen Terroristen dieser Zeit hervorbringt«, schüttelt der Gastronom Vidar Andersen den Kopf. Im Gegensatz zu Timothy McVeigh, dem Bombenleger im US-amerikanischen Oklahoma City, oder den Amokläufern an der Columbine High School hatte der Rechtsextremist Breivik gezielt und politisch motiviert den Nachwuchs der norwegischen Arbeiterpartei ins Visier genommen und hingerichtet.

Die Tageszeitungen des Landes berichteten in ihren Montagsausgaben ausführlich über persönliche Schicksale im Zusammenhang mit dem von Breivik verübten Massenmord und ließen Überlebende zu Wort kommen. »Norwegen hat nicht so viele Einwohner. Fast jeder kennt jemand, der jemand kennt, der beim Camp dabei war«, sagt Christine Henne Helmbek über die Betroffenheit vieler: »Wir alle fühlen uns angegriffen.« Am meisten berührt habe sie die in den Wochenendmedien dargestellte Erfahrung eines elfjährigen Campteilnehmers. Der Junge habe sich vor den schwer bewaffneten Massenmörder Breivik gestellt und ihm zugerufen: »Du könntest doch mein Vater sein. Du wirst mich nicht umbringen.« Daraufhin habe Breivik ihn verschont, dafür aber umso rücksichtsloser auf andere, am Boden liegende und sich tot stellende Jugendliche geschossen.

Im Bergener Folkethus (Volkshaus), der örtlichen Parteizentrale der Sozialdemokraten, kamen ab 16 Uhr weit über 500 Menschen im völlig überfüllten Saal zu einer Trauer- und Gedenkveranstaltung zusammen und lauschten den Ansprachen örtlicher Parteiführer und zweier aus der Region stammender Minister im rot-rot-grünen Kabinett von Ministerpräsident Jens Stoltenberg. Für die ergreifende musikalische Untermalung sorgte ein Künstler, der noch am Donnerstag beim Sommercamp der sozialdemokratischen Jugend auf der Insel Utøya aufgetreten war.

Während am Wochenende Parteiaktivisten und Angehörige noch um das Schicksal der 25 zum Inselcamp gereisten Jugendlichen aus der Region Hordaland bangten, stand am Montag endgültig fest, dass auch der 21-jährige Bergener Tore Eikeland, örtlicher Vorsitzender des Jugendverbands, und mindestens zwei weitere aus der Region stammende Jugendliche von Breivik hingerichtet wurden. Tore Eikelands Foto wurde von Mitstreitern samt persönlicher Widmung zwischen den vielen Blumen am Øvre-Ole-Bulls-Platz angebracht.

Nach der Veranstaltung im Volkshaus marschierten die Trauernden in einem Fackelzug durch die Hafenstadt. Mitinitiator dieses Schweigemarsches war Simen Willgohs, Stadtratsmitglied der Sozialistischen Linkspartei in Bergen. »Nach Tagen der Trauer müssen wir eine öffentliche Debatte über die Konsequenzen aus dieser Bluttat ziehen«, sagt er.

Auch seine Genossin Sara Bell, örtliche Parteivorsitzende in Bergen, redet Klartext. Für sie war der Massenmord auf Utøya ein »politisches Attentat auf die Arbeiterbewegung«. »Wir glaubten, wir wären ein friedliches Land, dabei haben wir eine der stärksten rechtsextremen Parteien in Europa«, sagt sie. Die Wirkung fremdenfeindlicher Rhetorik, die von der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, aber auch in privaten Sendern und Internetforen verbreitet wird, sei offenbar stärker als gedacht. Nun sei es an der Zeit, »die geistige Brandstiftung und den Nährboden aufzuarbeiten, auf dem ein Täter wie Anders Behring Breivik gedeihen konnte«.

**** Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011


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