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Wir alle waren gemeint

Ein österreichischer Blick auf Oslo

Von Nikolaus Lackner *

Die Attentate von Norwegen sind ein Fanal – ein Angriff auf die Idee der offenen und solidarischen Gesellschaft. Und an Tagen wie diesen, die man hoffentlich nur einmal in seinem Leben erleiden muss, sollten wir abseits aller Parteizugehörigkeiten in Solidarität zusammenstehen.

Noch bevor Psychologen und Psychiater das 1.500-seitige Pamphlet des Massenmörders durchgearbeitet und abschliessend bewertet haben, stellt sich für die europäische Linke, insbesondere auch für die politische Linke in Österreich die Aufgabe, aus dem Schrecklichen die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Solidarität mit den Familien der Opfer und dem zutiefst getroffenen Land ist ein Gebot der Stunde. Dem sinnlosen Tod von politisch denkenden jungen Menschen kann man auch nachträglich keinesfalls einen Sinn zuweisen. Man sollte sich, angesichts der bislang bekannt gewordenen Details über den Täter aber bewusst sein, daß wir alle gemeint waren, mit diesen Kugeln, mit dieser Bombe.

Er traf JungsozialistInnen. Und doch traf er uns alle, denn auch wir denken in politischen Kategorien, die der Mörder so sehr ablehnt, dass er zum schrecklichsten aller Mittel griff, um seinem Hass Ausdruck zu verleihen. Er bezog sich schliesslich mehrmals auf "kulturellen Marxismus", "Kulturbolschewisten", und die "Multikulturelle Gesellschaft". Und erschreckender Weise, aber für uns gelernte Österreicher nicht wirklich überraschend, erwähnte er sowohl das BZÖ als auch die FPÖ in seinem Text, und äusserte sich positiv über sie.

Auch der wahnhafte Rückgriff auf die Türkenbelagerungen klingt bei ihm wie direkt aus dem Strache-Comic im letzten Wahlkampf abgeschrieben.

Der Mörder war Mitglied in der, unserer FPÖ in vielen Dingen nicht unähnlichen, rechtspopulistischen Fortschrittspartei. Und er lebte ein Leben, das unauffälliger und "normaler" nicht sein könnte. Und schnell beginnt man überall zu versichern, daß selbst scharfe Überwachung der rechtsextremen Szene diesen Mann nicht hätte stoppen können. Der österreichische Direktor des Inlandsgeheimdienstes setzt sich sogar an den runden Tisch im ORF und behauptet ernsthaft, vom Rechtsextremismus gehe in Österreich keine Gefahr aus.

Es kann kurzfristig nur eine Antwort auf den Massenmord von Anders Behring Breiviks geben. Geeint in tiefer Trauer um die getöteten Kinder und Jugendlichen, muss die politische Linke über alle ideologischen Parteigrenzen hinweg den Kern des zutage tretenden Problems erkennen und wirksam bekämpfen.

Rechtsextremismus, religiöser Fundamentalismus und wiedererstarkende faschistische Tendenzen in unseren Gesellschaften stellen die derzeit grösste Bedrohung für die Demokratien dar. Parteien wie die FPÖ sorgen mit ihrem ständigen Überschreiten der Grenzen, die sich einst aus gutem Grunde nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus in der politischen Landschaft ergaben, für genau jenen Nährboden, auf denen Ideen, und seien sie noch so wahnhaft und unfassbar schrecklich wie die des Attentäters, wachsen und gedeihen.

Wir müssen nicht nur weiter achtsam sein. Wir müssen unsere Achtsamkeit erheblich verstärken. Unsere Aufgabe kann nur heissen, dem alltäglichen Fremdenhass entschlossen entgegenzutreten, wo immer er auch auftritt. Und wir sollten die RechtsextremistInnen und Neonazis in unserer direkten Umgebung nicht weiter gewähren lassen, wie es der heimische Verfassungsschutz leider tut. Denn möglicherweise retten wir das Leben Unschuldiger, wenn wir einen dieser Waffen sammelnden, ideologisch fanatisierten Extremisten melden und stoppen.

Wo immer auch in unserer Nähe und direkten Umgebung sich fanatisierte Extremisten herumtreiben, sollten wir sie namhaft machen, und wirksam mit allen Mitteln der Demokratie daran hindern, sich auf dieselben Pfade zu begeben, die der Täter beschritt.

Aktiver Antifaschismus darf sich angesichts des Geschehenen, nicht mehr nur auf Demonstrationen fokussieren. Wir müssen ihn leben. Und täglich wachsam unsere Umgebung im Auge behalten. Denn der nächste Breivik, der neue Franz Fuchs, ein weiterer Fritzl oder ein verkappter Timothy McVeigh ist möglicherweise unser ganz normaler FPÖ-wählender Nachbar, der Sonntags in die Kirche geht.

* Quelle: Internetseite der KP Österreichs, 25, Juli 2011; www.kpoe.at


Norwegen trauert um seine Ermordeten

Minute des Gedenkens im ganzen Land / Attentäter sieht sich "nicht schuldig" / Opferzahl auf 76 korrigiert **

Mit einer Schweigeminute hat Norwegen am Montag (25. Jukli) der Toten der beiden Terroranschläge gedacht, deren Zahl die Polizei von insgesamt 93 auf 76 nach unten korrigierte. Seinen ersten Auftritt vor einem Richter konnte der Attentäter Anders Behring Breivik nicht wie gewünscht für eine publizitätswirksame Erklärung nutzen. Der Termin fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Überall im Land ließen am Montag die knapp fünf Millionen Norweger die Arbeit ruhen, Züge hielten an, in Oslo ruhte auch der Straßenverkehr zum Gedenken an die Opfer der Anschläge vom Freitag (22. Juli).

Unterdessen gestand der festgenommene Breivik die Taten, lehnte eine strafrechtliche Verantwortung aber ab. Der 32-Jährige habe bei seinem ersten Haftprüfungstermin am Montag auf »nicht schuldig« plädiert, sagte der zuständige Richter Kim Heger in der Hauptstadt Oslo. Als Motiv habe er angegeben, sein Land gegen den Islam und den Marxismus verteidigen zu wollen. Heger begründete die Entscheidung, die Öffentlichkeit von der Anhörung auszuschließen, mit ermittlungstaktischen Gründen und Sicherheitsbedenken. Der Richter setzte eine achtwöchige Untersuchungshaft für Breivik an – doppelt so viel wie normalerweise maximal üblich. Dies hatten die Ermittler beantragt, um mehr Zeit für die Aufklärung der Tatumstände zu haben. Die ersten vier Wochen der Untersuchungshaft soll er in völliger Isolation verbringen, um die Ermittlungen der Polizei in dem Fall nicht zu stören.

Nach Angaben eines Gerichtsbeamten sagte Breivik in der Anhörung hinter verschlossenen Türen zudem aus, zu seiner Organisation gehörten »zwei weitere Zellen«, die zu zusätzlicher Gewalt bereit seien. Breivik wird rechtspsychiatrisch auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht. Das kündigte der Polizeiankläger Christian Hatlo am Montag in Oslo an.

Die norwegische Polizei hat am Montag (25. Juli) die Zahl der Anschlagstoten von insgesamt 93 auf 76 nach unten korrigiert. Demnach wurden auf der Insel Utöya 68 Menschen getötet, bislang war von 86 Toten die Rede gewesen. Dagegen stieg die Zahl der Toten bei dem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel von sieben auf acht.

Nach den Anschlägen hofft die EU-Kommission auf eine rasche Verschärfung der Bestimmungen zum Verkauf von Waffen und Alltags-Chemikalien, die zum Bombenbau genutzt werden können. Die EU-Kommission hatte im vergangenen Herbst entsprechende Vorschläge gemacht, die wegen Uneinigkeiten unter den Mitgliedsländern aber noch nicht beschlossen wurden, wie der Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström am Montag in Brüssel sagte. »Wir hoffen auf die schnellstmögliche Annahme der Vorschläge.«

** Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011


Oslo und die Matrix der Apokalypse

Der Wahn des christlichen Fundamentalismus

Von Ingolf Bossenz ***


Aufrufe zum Mord und deren Vollstreckung gehören seit jeher zum Kriegsarsenal religiöser Fundamentalisten. Auch im Christentum dient dieses Wahnpotenzial der ideologischen Aufrüstung von Fanatikern und Feinden der offenen Gesellschaft. Einer von ihnen ist der Massenmörder von Oslo.

»Und deshalb ermahne ich, nein, nicht ich, ermahnt Gott Euch als inständige Herolde Christi mit aufrechter Bitte, Männer jeglichen Standes, ganz gleich welchen, Ritter wie Fußkämpfer, reiche und arme, wiederholt aufzufordern, diese wertlose Rasse in unseren Ländern auszurotten und den christlichen Bewohnern rechtzeitig zu helfen.« Über 900 Jahre trennen den Aufruf des Papstes Urban II. zum Ersten Kreuzzug gegen die Muslime vom »Manifest« des Oslo-Attentäters Anders Behring Breivik. In Breiviks mit dem roten Kreuz des Templerordens dekorierten Pamphlet wird der »präventive Krieg« erklärt gegen die »marxistisch-multikulturellen Regime in Europa« und die »islamische Invasion/Kolonisation«. Breiviks Mitgliedschaft in einer christlichen Freimaurerloge verweist zwar zunächst nur auf seine religiöse Orientierung, dürfte aber auch einschlägigen Verschwörungstheorien zum Aufschwung verhelfen. Medien und Ermittlungsbehörden gilt der 32-Jährige als christlicher Fundamentalist.

Die Ansicht, die »Ausrottung« einer »wertlosen Rasse« sei Recht und Pflicht eines »Christen«, spricht aus den Worten des Papstes Ende des 11. Jahrhunderts wie aus denen des norwegischen Massenmörders Anfang des 21. Jahrhunderts. Sie gründet in der Überzeugtheit, einer Religion anzugehören, deren Botschaft in irrtumsloser Allmacht die einzige Wahrheit verkündet und deshalb alle anderen religiösen und weltanschaulichen Systeme verdammt. Ihr eignet zudem jener rigide Dualismus von Gut und Böse, den der persisch-christliche Religionsgründer Mani im 3. Jahrhundert als Manichäismus schuf. Wobei die Deklaration von Gut und Böse nicht auf menschlich-moralischer Basis erfolgt, sondern allein nach den »göttlichen« Grundsätzen der Fundamentalisten.

Ein solcher Fundamentalismus ausgerechnet in Norwegen erscheint auf den ersten Blick überraschend. Zwar gehören etwa 80 Prozent der knapp fünf Millionen Einwohner der evangelisch-lutherischen Staatskirche an. Als kirchlich aktiv gelten indes lediglich zehn Prozent. Doch gerade diese religiöse Indifferenz rief bereits im 19. Jahrhundert Laienprediger auf den Plan, deren wachsende Bewegung auf eine »Wiedererweckung« des christlichen Glaubens in der Bevölkerung zielte. Daraus entstanden in der Folge zahlreiche Freikirchen, deren theologische Verkündigung stark von biblischen Prophezeiungen und Endzeitmythen geprägt war. An dieser apokalyptischen Matrix hat sich bis heute wenig geändert. Zwar haben die evangelikalen Bewegungen in Norwegen längst nicht den Einfluss wie in den USA. Aber deren stärkste dort, die Pfingstbewegung (40 000 Mitglieder), ringt vor allem gegen die römisch-katholische Kirche (67 000) um wachsenden missionarischen Einfluss.

Diese Konkurrenzsituation gestaltet sich umso brisanter, als es mittlerweile in Norwegen 100 000 Muslime gibt. In Oslo beträgt deren Bevölkerungsanteil bereits 7,5 Prozent (landesweit: 2 Prozent).

Zum Fundamentalistischen tendierende christlich-konservative Ansichten finden sich auch in der norwegischen Politik. So regierte von 1997 bis 2005 der lutherische Pastor Kjell Magne Bondevik von der Christlichen Volkspartei als Ministerpräsident das Land. Er engagierte sich leidenschaftlich im Kampf gegen Schwangerschaftsabbruch und gleichgeschlechtliche Ehen sowie für mehr christliche Fernseh- und Rundfunksender.

Christlicher – wie jeder religiöse oder ideologische – Fundamentalismus führt zu Spaltungen in der Gesellschaft. Er kann – siehe USA – Kriege fördernd begleiten. Und er kann – siehe Norwegen – in Menschen ein pathologisch-destruktives Potenzial aktivieren, dessen Folgen für alle verheerend sind.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011


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