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Ablenkungsmanöver

In Nordirland fordern Initiativen Aufklärung von Verbrechen der britischen Armee. London zielt auf Führung von Sinn Féin

Von Florian Osuch *

Mit der mehrtägigen Festnahme von Gerry Adams, Präsident der irischen Linkspartei Sinn Féin, hat der Streit um die Aufarbeitung des Nordirland-Krieges an Schärfe zugenommen. Der 65jährige war Anfang Mai wegen eines Mordes aus den frühen 1970er Jahren verhört und nach vier Tagen Befragung ohne Anklage entlassen worden. Britische Ermittler bringen den populären Politiker in Verbindung mit dem Mord an einer Frau, die 1972 von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) aus ihrem Haus in Belfast entführt und ermordet worden war (jW berichtete). Die IRA hatte die 37jährige Jean McConville für eine Kollaborateurin der britischen Armee gehalten. Ihren Leichnam ließ man verschwinden; erst im Jahr 2003 wurde dieser südlich der inneririschen Grenze gefunden.

Gerry Adams hat stets Verbindungen zu diesem Mord bestritten und wiederholte dies kurz nach seiner Freilassung (siehe unten). Sinn Féin interpretiert die Festnahme ihres Präsidenten als Versuch, Einfluß auf die am 25. Mai stattfindenden Europaparlaments- und Kommunalwahlen in Nordirland zu nehmen. Das britische Establishment befürchtet offenbar, Sinn Féin könne seinen Einfluß weiter ausbauen. Ihr Stimmenanteil lag in Nordirland zuletzt bei fast 30 Prozent, Anfang der 1980er Jahren waren es nur elf Prozent gewesen. In der Republik Irland, dem südlichen Teil der gespaltenen Insel, steigerte die Partei im gleichen Zeitraum ihren Anteil von einem auf fast zehn Prozent.

Sinn Féin unterstützt Initiativen zur Aufarbeitung der Verbrechen, die britisches Militär in Nordirland verübte. Zuletzt machten insbesondere Angehörige von Opfern des »Ballymurphy-Massakers« auf ihr Anliegen aufmerksam. Sie fordern Aufklärung über die Umstände, die zum Tod von Bewohnern des Belfaster Viertels führten. Zwischen dem 9. und 11. August 1971 erschossen britische Fallschirmjäger in Ballymurphy elf Zivilisten, darunter auch einen Priester. Nie wurden die beteiligten Soldaten zu dem Massaker befragt oder gar Ermittlungen eingeleitet. Hinterbliebene von Opfern des »Bloody Sunday« streiten für eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse am 30. Januar 1972, als englische Soldaten in Derry 13 Teilnehmer eines Bürgerrechtsmarsches töteten.

Andere fordern Aufklärung bei der Zusammenarbeit zwischen britischen Sicherheitskräften und Geheimdiensten mit probritischen Milizen. Die als »Collusion« bezeichnete Kooperation zwischen staatlichen Stellen und den Todesschwadronen der »Ulster Volunteer Force« ist mittlerweile auch von unabhängigen Kommissionen nachgewiesen. Die paramilitärischen Gruppen verübten zahlreiche Morde an irischen Bürgern und republikanischen Aktivisten. Wenn es in Ausnahmefällen zu Ermittlungen der Polizei kam, wurden Verdächtige gedeckt, Beweise zurückgehalten und belastendes Material vernichtet.

Die Belfaster Menschenrechtsorganisation »Relatives for Justice«, die Familien vertritt, deren Angehörige durch die nordirische Polizei oder die britische Armee ums Leben kamen, sieht in der Verhaftung von Gerry Adams auch den Versuch, im Streit um die Aufarbeitung der Vergangenheit eine unabhängige Wahrheitskommission zu verhindern. Über eine solche Institution, wie sie etwa in Guatemala und in El Salvador zur Aufarbeitung von Verbrechen während der dortigen Bürgerkriege eingerichtet worden war, wird in Nordirland seit Jahren gestritten. Aus dem proirischen Lager und auch auf protestantischer Seite werden unabhängige Untersuchungen gefordert. Die britische Regierung lehnte dies bisher ab und setzte statt dessen im Jahr 2005 eine Polizeieinheit, das »Historical Enquiry Team«, ein, um ungelösten Morden des Nordirland-Konflikts nachzugehen. Mittlerweile wird das Gremium selbst von polizeiinternen Kontrolleuren wegen seiner Parteilichkeit kritisiert.

Anfang dieses Jahres legten zwei US-amerikanische Moderatoren einen Kompromißvorschlag zur Aufarbeitung der Vergangenheit durch eine unabhängige Kommission unter internationaler Aufsicht vor. Richard Haas und Meghan O’Sullivan waren von der nordirischen Regierung gerufen worden, strittige Themen des Friedensabkommens von 1998 einvernehmlich zu lösen. Dazu zählen u.a. die Gleichberechtigung verschiedener kultureller Identitäten, die Oraniermärsche und die Aufarbeitung der Vergangenheit. Zunächst schien ein Einvernehmen zwischen den nordirischen Parteien möglich, doch letztlich unterzeichnete nur Sinn Féin den Kompromißvorschlag; von der britischen Regierung kam keinerlei Unterstützung.

London versucht den Fokus auf die unaufgearbeiteten Verbrechen der IRA zu legen, zu denen der Mord an Jean McConville aus dem Jahr 1972 zählt. Es darf jedoch bezweifelt werden, daß solche Manöver die Popularität von Sinn Féin schmälern. Gerry Adams hat stets geäußert, er werde sich niemals von der IRA distanzieren. Ehemalige Angehörige der Guerilla, darunter auch solche, die für Mordanschläge verurteilt worden sind, bekleiden höchste Parteiämter bei Sinn Féin. Als Abgeordnete in Kommunal- oder Bezirksparlamenten, als Bürgermeister und in Gremien zur Kontrolle der Polizei sowie als Minister in der Provinzregierung vertreten sie die Partei auf allen Ebenen der Politik.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 13. Mai 2014


Hintergrund: Kampf um Nordirland

Seit Beginn der britischen Besetzung Irlands im 12. Jahrhundert gab es in vielen Generationen Freiheitsbestrebungen. Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sich Gruppen wie die »Irish Republican Brotherhood« oder die »Irish Socialist Republican Party«. Zu Ostern 1916 rebellierte eine Hand voll Aufständischer und proklamierte in Dublin eine Republik. Diese garantierte bürgerliche und religiöse Freiheiten und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Die Erhebung wurde niedergeschlagen. Es begann der Aufstieg der Partei Sinn Féin (irisch: wir selbst). Die historische IRA begann einen Guerillakrieg. 1922 stimmte die britische Regierung der Gründung eines »Irish Free State« im südlichen Teil der Insel zu. Die irisch-republikanische Bewegung spaltete sich. Ein Teil wollte sich nicht damit abfinden, daß das Land anhand konfessioneller Linien geteilt wurde. Im nordirischen Separatstaat dominierte eine Bevölkerungsmehrheit probritischer Protestanten. Die irisch-katholische Minderheit wurde diskriminiert.

Ende der 1960er Jahre bildeten sich Bürgerrechtsgruppen. Inspiriert von der Schwarzenbewegung in den USA traten Katholiken und Protestanten zusammen für gleiche Rechte ein. Eine Hauptforderung war ein faires Wahlrecht, denn dies war in Nord­irland an Hausbesitz gekoppelt. Bei Wahlen konnte die verarmte irische Unterschicht pro Familie oft nur eine und, die zumeist britischen Grundbesitzer konnten bis zu zehn Stimmen abgeben. Das Establishment fürchtete um seine Vorherrschaft und ließ die Proteste niederknüppeln. Probritische Milizen verübten Pogrome gegen die irische Bevölkerung. Anfang der 1970er Jahre reorganisierte sich die IRA und führte einen Guerillakrieg gegen die britische Besatzung. London verlegte Zehntausende Soldaten in die Provinz. Diese verübten Massaker an der irischen Bevölkerung, wie beim »Bloody Sunday« 1972 mit 13 Toten. Nach zwei Jahrzehnten Krieg wurde deutlich, daß keine Seite ihren Gegner bezwingen wird. 1994 erklärte die IRA einen Waffenstillstand und Verhandlungen mündeten 1998 in einem Friedensabkommen. Die Bevölkerung in Nord- und Südirland stimmte diesem mit großer Mehrheit zu. Die IRA gab ihre Waffen ab, gefangene Kämpfer kamen frei und britische Soldaten verließen weitgehend Nordirland. (fo)



»Entschlossenheit so groß wie eh und je« **

Nach seiner Entlassung am 4. Mai aus viertägiger Untersuchungshaft im Verhörzentrum der nordirischen Polizei PSNI in Antrim gab Gerry Adams, Präsident der irischen Linkspartei Sinn Féin und Mitglied im irischen Parlament Dáil, eine Pressekonferenz. jW dokumentiert eine leicht gekürzte und durch einzelne Erläuterungen ergänzte Fassung:

Ich kam freiwillig aus dem Dáil in die PSNI-Kaserne. Mein Rechtsanwalt hatte der PSNI bereits vor zwei Monaten meine Bereitschaft zu einem Treffen mitgeteilt. Grund hierfür waren neue Spekulationen der Medien, die mir eine Beteiligung an der Tötung von Jean McConville unterstellen. Wegen des Zeitpunkts hatte ich Bedenken, da Sinn Féin irlandweit mitten im Wahlkampf wichtiger Europa- und Kommunalwahlen steckt. (…)

Ich danke allen, die gute Wünsche an meine Familie oder an meine Genossen in Sinn Féin geschickt haben, für ihre Solidarität. Ich möchte noch einmal betonen, daß ich keinen Anteil an der Entführung, Tötung oder dem Verbergen der Leiche von Frau McConville habe. Ich habe gemeinsam mit anderen hart daran gearbeitet, dieses Unrecht wiedergutzumachen und ich werde mich weiterhin dafür einsetzen. (…)

Ich denke daran, daß sich am 5. Mai 2014 der Todestag des Hungerstreikenden und Abgeordneten Bobby Sands jährt, der in den H-Blocks (des nordirischen Gefängnisses Long Kesh, jW) starb. In meiner Zelle dachte ich an den schrecklichen Sommer von 1981. Natürlich ist es weder 1981 noch 1972. Es gibt kein Zurück. Aber es ist nötig, die Vergangenheit und insbesondere das Thema der Opfer und ihrer Familien zu bewältigen. Sinn Féin ist dazu bereit. (…)

Ich kam nicht in der Erwartung einer bevorzugten Behandlung zur PSNI. Jedermann muß fair behandelt werden. Andere Signale ermutigen die Ewiggestrigen. Deshalb will ich hier zu meiner Verhaftung Stellung nehmen. Niemand hat diejenigen, die meine Verhaftung und ihre Dauer angeordnet haben, gezwungen, die unsägliche Sondergesetzgebung (im Antiterrorbereich, jW) heranzuziehen. Sie hätten nicht die Mitte des Wahlkampfs wählen müssen. Trotz allem unterstütze ich die Polizei und werde weiterhin gemeinsam mit anderen an der Schaffung einer von Grund auf bürgernahen Polizei arbeiten.

Die alte Garde in der Führung der Polizei, in den Reihen des (probritischen, jW) Unionismus, an den Rändern des Republikanismus und in den dunklen Ecken des britischen Systems, stemmt sich gegen Veränderungen. Es darf ihr nicht erlaubt werden, der Bevölkerung – egal ob Protestant, Katholik oder Atheist – eine Gesellschaft zu verwehren, die Bürger und ihre Rechte in den Mittelpunkt stellt, so wie es das Karfreitagsabkommen vorsieht.

Als irischer Republikaner möchte ich in einem friedlichen Irland leben, das auf Gleichheit beruht. Ich habe mich nie von der IRA distanziert. Ich bin aber froh, daß ich gemeinsam mit anderen einen friedlichen und demokratischen Weg in die Zukunft für alle geschaffen habe. Die Vernehmungsbeamten legten großes Gewicht auf meine Zeit in der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre, meine damaligen Verhaftungen und meine Teilnahme an den Friedensgesprächen von 1972. Sie legten mir Zeitungsartikel, Fotogra­fien von Martin McGuinness und mir auf republikanischen Beerdigungen, Bücher und andere offene Quellen vor. Viele Vernehmungen drehten sich um das sogenannte Belfast-Projekt von Paul Bew, einem früheren Berater des Unionisten-Chefs David Trimble, das von Ed Moloney und Anthony McIntyre vom Boston College durchgeführt wurde. Beide sind Gegner unserer Friedensstrategie. Sie interviewten frühere Republikaner, die uns bei Sinn Féin wegen unserer Unterstützung des Karfreitagsabkommens und der Polizei feindlich gesinnt sind. (…) Ich habe alle Beschuldigungen, die gegen mich in den Boston-Tapes erhoben wurden, zurückgewiesen.

Für unsere Gesellschaft gibt es nur den Weg nach vorn. Meine Entschlossenheit ist so groß wie eh und je: für den Frieden und gegen die Kräfte, die sich drohend gegen Gleichheit und Gerechtigkeit als Grundlage der Gesellschaft stellen.

[Übersetzung: Uschi Grandel]

** Aus: junge Welt, Dienstag, 13. Mai 2014


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