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Späte Rache

Nordirland: Gerry Adams von der Partei Sinn Féin festgenommen. Irisch-republikanische Politiker sehen darin Wahlbeeinflussung

Von Florian Osuch *

In Nordirland ist der Chef der irischen Linkspartei Sinn Féin, Gerry Adams, am Mittwoch abend festgenommen worden. Er wird zu einem Mordfall aus den frühen 70er Jahren verhört. Die nordirische Polizei kann Adams bis zu 48 Stunden ohne Anklage festhalten, bei Redaktionsschluß war er immer noch inhaftiert.

Ermittler in Belfast untersuchen die Hintergründe des Mordes an der 37jährigen Jean McConville aus dem Jahr 1972. Die Mutter von zehn Kindern war von Mitgliedern der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) entführt, mißhandelt und ermordet worden. Ihr Leichnam wurde verscharrt und erst im Jahr 2003 im Süden der geteilten Insel zufällig gefunden. Die Untergrundorganisation hielt McConville für eine Informantin englischer Sicherheitsbehörden. In der Hochphase der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen IRA und den britischen Besatzungstruppen in Nordirland wurden immer wieder Menschen bedroht, verletzt oder getötet, wenn sie für Zuträger des Militärs oder der Polizei gehalten worden waren.

Die Festnahme ereignete sich wenige Wochen vor den Kommunalwahlen in Nordirland, die gleichzeitig mit der Abstimmung zum Europäischen Parlament am 25. Mai stattfinden. Laut Hochrechnungen kann die Sinn Féin Partei dabei ihren Stimmenanteil weiter ausbauen. Vor diesem Hintergrund bezeichneten führende irisch-republikanische Politiker die Festsetzung von Adams als politisch motiviert. Martin McGuinness, ehemaliger IRA-Kommandeur und heute Vizeministerpräsident von Nordirland, äußerte gegenüber der Irish Times, Adams sei Opfer einer politischen Kampagne geworden. Eine »dunkle Seite« würde versuchen, Einfluß auf die Politik und auf die Wahlen zu nehmen. Der erste Minister von Nordirland, Peter Robinson von der probritischen Democratic Unionist Party, sagte gegenüber der BBC, die Ermittlungen würden zeigen, daß im Zuge des Friedensprozesses keine Person über dem Gesetz stehe. Enda Kenny, Ministerpräsident der seit 1949 von Großbritannien unabhängigen Republik Irland im Süden der Insel, wies die Anschuldigung zurück, die Festnahme des populären Sinn-Féin-Präsidenten sei politisch motiviert.

McGuinness, der als enger Vertrauter von Gerry Adams gilt, telefonierte mit dem britischen Premierminister David Cameron und setzte sich für dessen Freilassung ein. Gleichzeitig forderte er erneut die Aufklärung der Hintergründe des Bloody Sunday – 1972 waren in Derry 13 Menschen bei einer Bürgerrechtsdemonstration von britischen Soldaten erschossen worden – und des »Ballymurphy Massakers« im gleichen Jahr mit elf durch britischer Falschirmjäger getöteten Opfern.

Die Festnahme von Gerry Adams ist der vorläufige Höhepunkt der Untersuchungen im Mordfall McConville. Seit Jahren streiten deren Hinterbliebene um eine vollständige Aufklärung der Ereignisse. Nie wurde jemand für den Auftrag oder die Ausführung des Verbrechens ermittelt. Der Sinn-Féin-Chef beteuert seine Unschuld und hatte die Tat stets als schweres Unrecht bezeichnet. Er war auch am Mittwoch freiwillig auf der Wache in Antrim erschienen, um seine Aussage zu machen.

Den Anlaß für das Verhör Adams könnten ausgerechnet ehemalige hochrangige Mitglieder der IRA selbst gegeben haben. Gegenüber Forschern des amerikanischen Boston College hatten einstige Angehörige der irischen Guerilla und auch von probritischen Paramilitärs detaillierte Interviews zum Nordirland-Konflikt gegeben. Thema des bereits im Jahr 2001 gestarteten Projekts war auch der Tod von Jean McConville. An dem Universitätsprojekts nahm Brendan Hughes, ehemaliger IRA-Kämpfer und Anführer eines Hungerstreiks irischer Gefangener im Jahr 1981, teil. Hughes, der bereits im Jahr 2008 verstorben ist, hatte Adams als Auftraggeber des Mordes an ­McConville bezeichnet.

Jean McConville gehört zu insgesamt 16 Personen, die während des Krieges in Nordirland »verschwanden«. Im Zuge des Friedensprozesses und der Aussöhnung zwischen den ehemaligen Konfliktparteien gab die IRA zu, neun von ihnen getötet und an versteckten Orten beerdigt zu haben, darunter auch Jean McConville.

* Aus: junge Welt, Samstag 3. Mai 2014


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