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Frischer Wind für den Friedensprozess in Nordirland

Ein Kommentar zu den Wahlen zum nordirischen Regionalparlament am 26. November 2003

Von Uschi Grandel

Der Wahltag am 26. November war nass und windig. Vormittags schüttete es in Strömen, nachmittags pfiff ein eisiger Wind. Etliche potentielle Wähler wurden an der Wahlurne zurückgewiesen, weil sie dem neu eingeführten Registrierungsprozess zum Opfer gefallen waren. Trotz eines rechtzeitig gestellten Antrags und monatelangen Wartens hatten ca. 50 000 Wähler keinen entsprechenden Ausweis erhalten. Trotzdem lag die Wahlbeteiligung bei knapp über 63%.

Nach zwei Tagen waren alle Stimmen in dem komplizierten Wahlverfahren der "proportionalen Vertretung" (proportional representation, PR) ausgezählt und zwei Sieger standen fest: auf der irischen Seite die irisch-republikanische Partei Sinn Féin, auf der pro-britischen Seite die DUP, die Partei des protestantisch-religiösen Eiferers Ian Paisley, die als stärkste Partei aus den Wahlen hervorging.

SF SDLP UUP DUPAll WCPUPOthers
Sitze 24 18 27 30 6 0 1 2
Prozent 23.53%17% 22.7% 25.65% 3.7% 0.84% 1.16% 5.43%
Sitze
(1998)
18 24 28 20 6 2 2 3
Prozent
(1998)
17.63% 21.96% 21.25% 18.01% 6.5% 1.61% 2.55% 4.58%

Abbildung 1: Ergebnis der Wahlen zum nordirischen Regionalparlament
1.097.526 Wahlberechtigte, Wahlbeteiligung: 63,1%


Damit war für viele Kommentatoren die Sache abgehakt: die Extremisten in beiden Lagern hätten gewonnen und die Aussichten im Friedensprozess seien deshalb düster.

Vergessen sind anscheinend bereits die Erfahrungen der letzten fünf Jahre seit Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens (Good Friday Agreement) und der ersten Wahl eines Regionalparlaments auf dieser Grundlage im Jahre 1998. Diese Jahre haben die Versuche, dasAbkommen umzusetzen und Nordirland zu einer demokratischen und gerechten Gesellschaft umzubauen, als zähen Kampf erlebt. Und das, obwohl die am Prozess beteiligten Parteien alle sogenannte Pro-Agreement-Parteien waren. Die beiden stärksten Parteien waren SDLP und UUP. Haupthindernis war und ist die Hartnäckigkeit, mit der die unionistischen Parteien Nordirland als "ihren" Staat betrachteten und alle Versuche der Demokratisierung als Zugeständnisse an die "andere Seite" bekämpften und bekämpfen. Keine der großen unionistischen Parteien, weder die UUP noch die DUP, hat je versucht, ihren Wählern die nötigen Veränderungen zu erklären. Egal ob es um Antidiskriminierungsrichtlinien oder um Polizeireform geht, jede noch so kleine Reform wurde und wird als Zugeständnis an Sinn Féin diffamiert.

Die britische Regierung war und ist der letzte Notnagel der Unionisten gegen allzu Unausweichliches und so forderte die UUP von der britischen Regierung in den letzten 5 Jahren viermal die Suspendierung der Regionalregierung. Die britische Regierung kam dem immer allzu willig nach. Auch in den britischen Regierungsstellen gibt es noch viele, für die Demokratisierung in Nordirland nichts anderes ist als Machtverlust, den es zu verhindern gilt.

Die Wahlergebnisse geben auch diesmal den Befürwortern des Friedensabkommens eine profunde Mehrheit:
  • Pro-Agreement-Parteien sind die irisch-republikanische Sinn Féin (SF), die irisch-nationalistische Social Democratic Labor Party (SDLP), die pro-britische, unionistische Ulster Unionist Party (UUP), die liberale unionistische Partei Alliance Party (All), die übergreifende Womens Coalition (WC), die pro-britische Progressive Unionist Party (PUP), die Partei der loyalistischen paramilitärischen Organisation UVF. Sie halten gemeinsam ca. 70% der Stimmen und der Sitze im Regionalparlament.
  • Als Anti-Agreement-Partei hat in dieser Wahl nur noch die DUP Sitze im Regionalparlament erreicht. Sie ist zwar stärkste Partei, hält aber nur 30 der 108 Sitze. Innerhalb der UUP gibt es 4-5 Gegner des Friedensprozesses, prominentester Widersacher von Trimble ist Jeffrey Donaldson, der vor der Wahl knapp einem Parteiausschluss entging.
Damit besitzt das Lager der Befürworter des Friedensprozesses im nordirischen Parlament über 70 Sitze.

Sinn Fein ist stärkste Kraft im irischen Lager

Was diesmal jedoch die Lage deutlich verändert, ist die Stärke von Sinn Féin, die nun auch sichtbar die Meinungsführerschaft der pro-irischen Seite übernommen hat. Die irisch-republikanische Partei, die sich wie die IRA zur irisch-republikanischen Bewegung zählt, ist seit langem die treibende Kraft im Friedensprozess, auch wenn nach aussen die Lorbeeren den staatstragenden Parteien SDLP und UUP zufielen - John Hume und David Trimble erhielten nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens den Friedensnobelpreis.

Jahrzehntelang hat Sinn Féin um die Schaffung politischer Bedingungen für einen Prozess der Konfliktlösung gerungen. Sie hat Diskriminierung erlebt und Terror gegen ihre Aktivisten und Abgeordneten. Alex Maskey, der im Juni 2002 als erstes Sinn Féin Mitglied zum Bürgermeister von Belfast gewählt wurde, überlebte als Belfaster Stadtrat in den 80er Jahren insgesamt neun Anschläge auf sein Leben, einen davon schwerverwundet. Sinn Féin hat trotzdem konsequent den Kurs der Konfliktlösung verfolgt und hat die IRA auf diesem Weg mitgenommen. Seit 1994 besteht der Waffenstillstand der IRA.

Dies steht im krassen Gegensatz zu den unionistischen Paramilitärs, die sich als "Loyalisten" bezeichnen. Deren Angriffe auf irische Wohnviertel und brutale Morde ist eines der grossen Probleme des Friedensprozesses. Einen Tag vor der Wahl, am 25. November wurde in Lisburn ein junger Mann von Loyalisten zu Tode geprügelt, nur wenige Tage nach der Wahl feuerten loyalistische Gangs Schüsse auf die Wohnungen von insgesamt acht Abgeordneten von Sinn Féin.

Die Stärke Sinn Féins hat bereits vor den Wahlen für neue Offenheit gesorgt: zum ersten Mal in ihrer Geschichte verhandelte die UUP direkt mit Sinn Féin über eine Lösung des durch die Suspendierung der Regionalregierung festgefahrenen Friedensprozesses. Sinn Féin hat angekündigt, den Dialog mit den Unionisten, also erst einmal mit der UUP, als wichtigen Bestandteil des Konfliktlösungsprozesses weiterzuführen. Wenn aber die DUP nicht mit Sinn Féin reden will?

Krise des Unionismus

"Die Unionisten befinden sich in einer Krise und das verlangt von uns anderen, dass wir ein bisschen Geduld haben," kommentierte der Sinn Féin Präsident Gerry Adams die gegen das Friedensabkommen gerichteten Aussagen verschiedenster Unionisten.

Die Wahl der DUP zur stärksten Partei des unionistischen Lagers hat in den irischen Vierteln keine Begeisterungsstürme ausgelöst. Die Realität ist in vielen Fällen jedoch sehr viel pragmatischer als die anti-republikanischen Ausfälle der DUP-Vertreter. In der Regionalregierung haben die beiden DUP Minister gute Arbeit geleistet und mit allen Parteien kooperiert. Auf kommunaler Ebene klappte diese Zusammenarbeit in vielen Fällen gut.

Ausnahmen sind Kommunen, in denen eine unionistische Mehrheit besteht und alte Verhaltensweisen aufrecht erhalten werden können, wie z.B. in Lisburn. Anstatt gegen anti-katholischen Fanatismus ein Zeichen zu setzen, haben sich UUP und DUP darauf geeinigt, keinen Vertreter der pro-irischen Seite in irgendeinem kommunalen Gremium zum Zug kommen zu lassen. Auch der oben erwähnte anti-katholische Mord in Lisburn hat an dieser Haltung nichts geändert, Politik und Paramilitärs sind hier zwei Seiten einer Medallie.

Die Irrungen und Wirrungen des Umbruchs der unionistischen Seite dürfen jedoch nicht vergessen machen, dass die Hauptverantwortung für die Umsetzung des Friedensabkommens in den Händen der britischen Regierung liegt. Sie hat die Macht im Land und die Herrschaft über Polizei und Justiz. Die Polizeireform, die Wandlung der nordirischen Polizei von einer anti-irischen, anti-katholischen Miliz in eine zivile Polizei ist eines der drängenden Probleme, so wie auch Demilitarisierung der britischen Armee, Durchsetzung von Gleichheit in den verschiedenen Lebensbereichen noch auf Umsetzung warten. Der Wahlsieg Sinn Féins hat eine Partei gestärkt, die hartnäckig wie keine andere an der Umsetzung eben dieser Forderungen arbeitet. Ein Friedensprozess ist nach jahrzehntelangem Konflikt nicht schnell abgehakt. Die Wahl hat dem Prozess neue Kraft gegeben.

* Dr. Uschi Grandel ist Mitglied der Save the Good Friday Agreement Coalition und der deutschen Irlandsolidarität.
Webseite: http://www.info-nordirland.de/



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