Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nordirland: Tanz an der Kante

Wieder einmal haben Unionisten und Republikaner ein "letztes" Ultimatum aus London verstreichen lassen

Von Pit Wuhrer *

Nein, von seiner Seite habe sonst niemand kommen wollen, und auch er sei jetzt nur hier, weil er das Projekt im Grunde genommen ganz gut finde. Aber mehr wolle er dazu im Augenblick nicht sagen. Stephen Bloomer, der junge protestantische Loyalist aus Carrickfergus, hält sich ziemlich zurück beim letzten Treffen von The Other View, dem mit Abstand interessantesten nordirischen Magazin. Fünf Jahre lang wurde Die andere Sicht von früheren Bürgerkriegsgegnern herausgegeben - von ehemaligen IRA-Mitgliedern wie Anthony McIntyre und Tommy McKearney auf der einen und von Billy Mitchell aus der loyalistischen Ulster Volunteer Force (UVF) auf der anderen Seite. Nach langen Haftjahren waren sich die früheren Paramilitärs einig, eine Verständigung der beiden verfeindeten Lager brauche mehr als gemeinsame Weihnachtsfeiern von Katholiken und Protestanten, auch mehr als die politischen Manöver ganz oben, die Nordirland seit dem Karfreitagsabkommen in Atem halten.

Und so gründeten sie ihre Vierteljahreszeitschrift, die - anfangs vom EU-Friedensfonds finanziert - Gegensätze nicht aussparte, sondern hervorhob. The Other View thematisierte die protestantischen Märsche des Oranier-Ordens (in kontroversen Texten) ebenso wie die nach wie vor wenig erhebenden Verhältnisse in den Arbeiterquartieren. Die vorzugsweise an Schulen verteilte Publikation erlaubte den Blick auf die Sicht der anderen, förderte Verständnis - und scheiterte. Vor Monaten zogen sich Mitchell und seine loyalistischen Kollegen aus der Redaktion zurück. "Sie konnten sich keine Zusammenarbeit mit uns Republikanern mehr leisten, wollten sie nicht in Gefahr kommen", sagt McKearney. Und so schickten sie Stephen Bloomer, der bisher an The Other View kaum beteiligt war und bei diesem letzten Treffen lieber nichts sagen wollte. "Das Projekt ist tot", konstatiert daher der ehemalige IRA-Mann McIntyre, "gestorben am wachsenden Misstrauen der unionistischen Mehrheit gegenüber dem Friedensprozess."

Zurück zur alten Herrlichkeit

"Die Skepsis wächst in der Tat", meint auch David Adams, bis vor kurzem Führungsmitglied der loyalistischen Ulster Democratic Party (UDP), dem politischen Sprachrohr der Ulster Defence Association (UDA) und damit der größten paramilitärischen Formation Nordirlands. Er selber, so Adams, sei immer noch der Meinung, das Karfreitagsabkommen diene der protestantischen Sache, da es die Union mit Britannien gestärkt habe. Einst war dies auch die Ansicht der anderen Loyalisten von der UDA, die sich mit ihrem nüchternen Blick lange Zeit von den aufgeregten Unionisten um Ian Paisley abhoben, die das Abkommen strikt ablehnten. Dass sie mit dem Feind - der IRA nahen Partei Sinn Féin - die Macht teilen sollen, ist für viele Anhänger von Paisleys Democratic Unionist Party (DUP) bis heute undenkbar: Sie wollen zurück in die alte Herrlichkeit, als Nordirland noch "ein protestantischer Staat für eine protestantische Bevölkerung" war, wie es einmal ein nordirischer Premierminister formulierte.

Aber was hat die loyalistischen Organisationen in den Arbeiterquartieren wieder radikalisiert? Dafür gebe es mehrere Gründe, glaubt David Adams. "Derzeit ist nur eine Stimme laut und deutlich vernehmbar - die von Ian Paisley, der täglich vor dem drohenden Ausverkauf warnt. Das prägt auch Leute, die es eigentlich besser wissen müssten. Die Siegerpose der Republikaner, die immer noch so tun, als hätten sie den Bürgerkrieg gewonnen, hat ebenfalls Zweifel geweckt. Und schließlich fühlen sich viele vom Hin und Her um die Regierungsbildung verunsichert."

Deswegen, so Adams, würden die loyalistischen Paramilitärs wieder rekrutieren. Protestantische Jugendliche stünden vor ihren Büros Schlange, weil sie beitreten wollten. Seiner Schätzung nach stehen in den bewaffneten Verbänden mittlerweile wieder 20.000 Mann - so viele wie schon lange nicht mehr. Zum Vergleich: Selbst in ihrer aktivsten Zeit hatte die IRA nie mehr als 500 Freiwillige.

Adams Einschätzung teilen viele in den loyalistischen Hochburgen von Belfast, Lisburn, Portadown und Ballymena - zitiert werden will freilich niemand. "Wir können uns vor beitrittswilligen Jugendlichen kaum retten", sagt einer in der Shankill Road und verschwindet auch schon wieder. Die Loyalisten haben - wie so oft in den zurückliegenden Jahrzehnten - die Rollläden heruntergelassen, keine Interviews, keine Kontakte. Noch nie ein gutes Zeichen.

Die Frustration sitzt tief, in manchen Arbeitervierteln liegt die Erwerbslosigkeit immer noch bei 50 Prozent. Der moderate Wirtschaftsaufschwung lässt die protestantischen und katholischen Quartiers aus, und die um vieles besser situierte unionistische Mittelklasse ist gleichfalls verunsichert. Wie aufgeheizt die Stimmung ist, zeigte der Attentatsversuch von Michael Stone am 24. November. Als die Assembly an diesem Tag zum ersten Mal seit langem wieder zusammentrat, stürmte der wegen Mordes schon einmal verurteilte, dank des Friedensprozesses aber frei gelassene Loyalist ins Belfaster Parlament und hatte es auf Gerry Adams sowie Martin McGuinness von Sinn Féin abgesehen.

Ein Eid auf den MI5

Im April hatten sich die Regierungen in London und Dublin darauf verständigt, die nordirischen Parteien wieder mehr unter Druck zu setzen. Den Fraktionen der nordirischen Assembly bliebe nur noch bis Ende Mai - maximal bis Ende November - Zeit, um eine neue Regionalregierung zu wählen, hieß es. Andernfalls werde die Versammlung aufgelöst, die seit Oktober 2002, als die letzte Regionalregierung suspendiert wurde, nicht mehr tagt. Zugleich werde die Bezahlung der Abgeordneten eingestellt und das Karfreitagsabkommen ad acta gelegt. Auf einer Konferenz im schottischen Ort St. Andrews, zu der die großen nordirischen Parteien gebeten waren, bekräftigten bei Regierungen Mitte Oktober ihr Ultimatum - und verbanden es mit einer Forderung an Sinn Féin, um damit Paisleys DUP weit entgegen zu kommen, die in einer gemeinsamen Regierung Anspruch auf den Posten des Ersten Ministers hat. Eine Regionalregierung - so das Verlangen von St. Andrews - komme nur in Frage, wenn der stellvertretende Erste Minister, den Sinn Féin stellen müsste, seinen Eid auch auf die Sicherheitskräfte von Nordirland schwört.

Für die Basis von Sinn Féin und viele ehemalige IRA-Mitglieder eine gezielte Demütigung, die sie daran erinnern musste, dass Paisley vor Jahren darauf bestanden hatte, die IRA möge ihre Waffen in einem Akt der Unterwerfung öffentlich übergeben, sich danach für den Bürgerkrieg entschuldigen und abtreten. Die Irisch-Republikanische Armee war stattdessen nur zu einer Erklärung bereit gewesen, mit der sie das Ende des Kampfes und ihre Selbstentwaffnung verkündete.

Im Übrigen haben die Republikaner bis heute allen Grund, der nordirischen Polizei und den britischen Geheimdiensten weiterhin zu misstrauen. Erst Anfang November war eine internationale Untersuchungskommission zu dem Ergebnis gekommen, dass nordirische Polizisten und britische Agenten während des Bürgerkrieges zahlreiche Verbrechen begangen haben. In 24 von 25 untersuchten Fällen, bei denen es 76 Todesopfer gab - teilte das unabhängige Richtergremium mit - seien Sicherheitskräfte beteiligt gewesen. Bisher hat sich die Regierung Blair allen weiteren Recherchen zu diesen Morden verweigert. Was sie aber nicht daran hindert, wie auf der Konferenz in St. Andrews geschehen, den designierten stellvertretenden Regionalpremier Martin McGuinness aufzufordern, er möge per Eid auch die Operationen des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 gutheißen, der seit geraumer Zeit allein für den "Anti-Terror-Kampf" in Nordirland zuständig und nur in London rechenschaftspflichtig ist.

Allein die Möglichkeit, dass sich die Sinn Féin-Spitze einer solchen Zumutung unterwerfen könnte, entzweit schon jetzt die Partei. In den vergangenen drei Wochen haben über 40 zum Teil hochrangige Sinn-Féin/IRA-Mitglieder die Organisation verlassen. Die Real IRA und die Continuity IRA, zwei radikal-republikanische Splittergruppen, erleben einen Zulauf wie lange nicht mehr - überwiegend von jungen Leuten, die offenkundig auch aktiv sind. Seit Anfang November kam es in Belfast zu drei Brandanschlägen auf Geschäfte und in South Armagh zu einem bewaffneten Angriff auf eine Polizeiwache.

Die Sinn-Féin-Führung um Gerry Adams hat daher zunächst einmal abgewunken: Der reklamierte Eid auf die Sicherheitsorgane müsse von einem Parteitag akzeptiert werden, und dafür brauche man Zeit. Auch der 80jährige Ian Paisley, der gern mit dem Amt des nordirischen Regierungschef seine Karriere krönen würde, muss seinerseits erst wieder die Geister in die Flasche zurückstopfen, aus der er sie über Jahrzehnte hinweg rief. So hat London entschieden: Das "allerletzte" Ultimatum wird nochmals verlängert, und "Plan B", der Dublin in Belfast eine größere Mitsprache einräumt, soll erst nach einer Neuwahl der Assembly Anfang März 2007 in Kraft treten.

Aber wird es überhaupt zu einem Konsens kommen? David Adams bleibt skeptisch: "Die Politiker beider Seiten können nicht ohne Rücksicht auf ihre Basis handeln. Außerdem kommt die Pattsituation Sinn Féin zugute: Die Partei kann immer noch so tun, als würde sie einen Staat bekämpfen, den sie inzwischen akzeptiert hat." Bernadette McAliskey, die große Bürgerrechtlerin der siebziger Jahre, ist ähnlicher Ansicht, begründet sie aber so: "Die Unionisten wollten nie Macht abgeben, wollen das nicht und werden das auch in Zukunft nicht tun." Daher werde die DUP auch im März 2007 weiterhin jede Kooperation mit der nationalistischen Minderheit ablehnen.

Der Friedensprozess bisher

August 1994 - die IRA ruft einseitig einen Waffenstillstand aus.

April 1998 - die Regierungen in London und Dublin sowie alle nordirischen Konfliktparteien unterzeichnen am Karfreitag das Abkommen von Belfast. Auch wenn der Vertrag in Nordirland mehrheitlich befürwortet wird, ist andererseits nur etwas mehr als die Hälfte der Protestanten dafür.

Juni 1998 - bei der Wahl der Assembly, der neuen Regionalversammlung, gewinnen die "gemäßigten" Parteien - die unionistisch-protestantische UUP und die nationalistisch-katholische SDLP - die meisten Mandate.

Dezember 1999 - nach langen Verhandlungen entsteht eine Regionalregierung mit UUP und SDLP an der Spitze, die jedoch nach wenigen Monaten scheitert. v Februar 2000 - London übernimmt wieder die Direktherrschaft. Anlass: Die IRA nahe Partei Sinn Féin nennt keinen Zeitpunkt für die Entwaffnung der Irisch-Republikanischen Armee. Ein Vorwand, der entscheidende Grund für die Rückkehr zum Status vor dem Karfreitag 1998 ist der wachsende protestantische Widerstand gegen den Friedensprozess.

Mai 2000 - London setzt die Regionalregierung wieder ein.

Oktober 2002 - die Nordirlandregierung kollabiert erneut. Anlass: Die IRA soll Assembly-Abgeordnete anderer Parteien ausspioniert haben. Wahrer Grund: Eine überwältigende Mehrheit der protestantischen Bevölkerung lehnt mittlerweile das Karfreitagsabkommen ab.

November 2003 - die Wahl zur Assembly kehrt die Machtverhältnisse um: Nun sind die fundamentalistische DUP von Ian Paisley und Sinn Féin die stärksten Parteien auf beiden Seiten. Laut Abkommen stehen damit der DUP und Sinn Féin die wichtigsten Posten in einer Regionalregierung zu.

Juli 2005 - die IRA erklärt den bewaffneten Kampf für beendet.

September 2005 - die internationale Entwaffnungskommission gibt bekannt, dass die IRA ihr gesamtes Waffen- und Sprengstoffarsenal unbrauchbar gemacht hat.

Mai 2006 - London und Dublin berufen die immer noch suspendierte Assembly zu einer Sondersitzung ein und erklären: Wenn die Parteien bis 24. November 2006 keine Regierung wählen, wird die Versammlung endgültig aufgelöst und Nordirland auf unabsehbare Zeit von London (und Dublin) direkt verwaltet.

Ende November 2006 - London verlängert das Ultimatum bis zur Neuwahl der Assembly im März 2007.





Das Karfreitagsabkommen

Das 1998 beschlossene Abkommen besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: Es schreibt fest, dass der konstitutionelle Status von Nordirland nur mit Zustimmung einer Mehrheit der nordirischen Bevölkerung verändert werden darf. Da die protestantischen Unionisten in der Mehrzahl sind (und auch noch lange bleiben werden), garantiert diese Klausel die Union von Britannien und Nordirland.

Vorgesehen ist zugleich eine Selbstverwaltung, die auf Machtteilung basiert. Die größten Parteien der Regionalversammlung besetzen je nach Stärke die zehnköpfige Regionalregierung, wobei die größte Partei der einen - religiös definierten - Seite den Ersten Minister stellt und die größte Partei der anderen dessen Stellvertreter. Alle Entscheidungen der Regierung bedürfen der Zustimmung eines Gutteils der Minderheitsrepräsentanten.

Weiterhin sollten nach dem Abkommen unter anderem: die politischen Gefangenen entlassen werden (weitgehend vollzogen), grenzüberschreitende Gremien die Kooperation mit der Republik Irland koordinieren (sind derzeit blockiert) und Schritte hin zu einer Polizeireform (über die wird gerade gestritten) erfolgen.



* Aus: Freitag 50, 14. Dezember 2006


Zurück zur Nordirland-Seite

Zurück zur Homepage