Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Terroristen sind immer die anderen

Nordirland: Ein Mord, ein neuer Anlauf und ein runder Geburtstag

Von Pit Wuhrer*

Die Beteuerungen klangen etwas wie das Pfeifen im Walde. Natürlich werde man am Deal von 1998 festhalten, sagten kurz vor dem achten Jahrestag des Karfreitagsabkommens die Regierungschefs Tony Blair (Britannien) und Bertie Ahern (Irland). Der Vertrag bilde weiterhin "den unverzichtbaren Rahmen für die Beziehungen auf der Insel". Da jedoch wesentliche Elemente des Abkommens (vgl. Kasten) seit über drei Jahren blockiert sind und die Regionalregierung suspendiert ist, werde man nun einen neue Initiative starten und die nordirische Assembly am 15. Mai erneut einberufen.

Den ersten Schritt dazu hat das britische Unterhaus diese Woche getan: Es hob per Eilgesetz die Londoner Direktherrschaft über Nordirland auf. Damit hätten die nordirischen Parteien wieder die Möglichkeit, die Probleme selber zu regeln, meint Nordirlandminister Peter Hain. Viel Zeit bekommen sie dafür nicht. Sie müssen - so der Plan von Blair und Ahern - binnen sechs Wochen eine Regionalregierung wählen.

Da man in London und Dublin weiß, wie unwahrscheinlich es ist, dass sich die nordirischen Parteien bis Ende Juni auf einen Regionalpremier aus den Reihen der protestantischen Hardliner um Ian Paisley und eines katholisch-republikanischen Vizes von der IRA nahen Partei Sinn Féin einigen, haben sie ihr Ultimatum gleich verlängert: Nach der Sommerpause hätten die Abgeordneten nochmals drei Monate, um eine Regierung zu finden. Danach aber, so Peter Hain, würden "andere Wege beschritten": Dann sei die Idee einer begrenzten Selbstverwaltung Nordirlands für lange Zeit erledigt, dann erhalte die von den nordirischen Protestanten immer noch höchst misstrauisch beäugte Regierung in Dublin mehr Mitsprache in nordirischen Belangen.

Mit dieser Drohung spielen Blair und Ahern ihre letzte Karte. Auf diese Weise, hoffen sie, werde sich die größte nordirische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP) von Ian Paisley, doch noch zu Gesprächen mit Sinn Féin bewegen lassen. Bisher hat sich die DUP strikt geweigert, mit den ehemaligen IRA-Mitgliedern auch nur zu reden. Da beide Parteien jeweils die Mehrheit der protestantischen wie katholischen Bevölkerung von Nordirland repräsentieren, müssen vor allem sie - so sieht es das Karfreitagsabkommen vor - die Regionalregierung bilden.

Während Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams den Vorstoß begrüßte, lehnte Paisley das Ultimatum ab. Er werde sich nie dazu zwingen lassen, "die Kriminalität der IRA zu akzeptieren". Diese Radikalität hat ihn zum populärsten Politiker der pro-britischen Bevölkerungsmehrheit von Nordirland gemacht, die sich zuletzt zunehmend vom Friedensprozess abwendet. Das protestantische Kleinbürgertum hält die Freilassung ehemaliger IRA-Häftlinge und die zaghafte Reform der nordirischen Polizei immer noch für unerträglich. Die protestantischen Arbeitslosen in den Belfaster Slums sehen sich als Verlierer, da aus ihrer Warte alles "den Katholiken zugeschustert" wird. Und alle lehnen die Idee einer Gesellschaft von Gleichberechtigten ab - schließlich sind die anderen die "Terroristen".

Donaldsons Bekenntnisse

Dass jetzt London und Dublin nicht mehr einfällt, als mit einem größeren Einfluss des konservativen Establishments im Süden zu drohen, zeigt ihre Ratlosigkeit. Das Gleiche hatte schon 1985 Margaret Thatcher versucht. Ihr anglo-irisches Abkommen scheiterte am massiven Widerstand der Protestanten. Ian Paisley war - im Unterschied zu Blair und Ahern - seinerzeit schon dabei und führte viele der Massenproteste an. Sollten Blair und Ahern dennoch ihre Karte spielen, wäre das Karfreitagsabkommen wohl erledigt.

In dieser Situation kam der DUP der Mord an Denis Donaldson wie gerufen. Donaldson wurde kurz vor Bekanntgabe des neuen Nordirlandplans in der irischen Grafschaft Donegal mit einer Schrotflinte erschossen. Er war eine prominente Figur der republikanischen Bewegung, trat Ende der Sechziger der IRA bei, spielte wie Gerry Adams eine wichtige Rolle in der Belfaster Brigade, war ein enger Freund der IRA-Ikone Bobby Sands, hatte stets Zugang zur IRA-Führung, war hoch geachtet und leitete ab Ende der neunziger Jahre das Büro der Sinn-Féin-Abgeordneten.

Im Oktober 2002 jedoch endete seine Karriere: Donaldson wurde verhaftet, weil er - so die Behörden - in Stormont, dem Sitz der nordirischen Administration, Minister und Abgeordnete der anderen Fraktionen bespitzelt habe. Das damalige Regionalkabinett unter Friedensnobelpreisträger David Trimble nahm dies zum Anlass, die Koalition mit Sinn Féin platzen zu lassen. London gewährte sich wieder die Direktherrschaft über Nordirland, suspendierte die Regionalregierung und legte den Friedensprozess auf Eis. Ende 2005 freilich kam die andere Seite von Denis Donaldson zum Vorschein. Die Staatsanwaltschaft stornierte plötzlich die Ermittlungen - und Donaldson bekannte, seit 20 Jahren die britischen Geheimdienste über die IRA informiert zu haben.

So lange sie gegen die Briten kämpfte, hat die IRA alle Spitzel erschossen, aber ist sie auch in diesem Fall für die Exekution von Donaldson verantwortlich, wie die DUP vermutet? Wohl kaum. Sinn Féin und IRA haben im Unterschied zur DUP ein großes Interesse daran, die im Abkommen von 1998 begründeten Institutionen wieder zu beleben und in der Regionalregierung präsent zu sein. Außerdem hat der IRA-Armeerat zuletzt mehrere hochrangige britische Agenten amnestiert. Freddie Scappaticci etwa war vor drei Jahren enttarnt worden. Der einstige Chef der IRA-Aufklärung machte Jagd auf britische Agenten (wie er selber einer war) und tötete eigenhändig mehrere angebliche Informanten. Er durfte unbehelligt ausreisen und lebt inzwischen in Italien. Auch mit Donaldson hatte die IRA-Spitze - davon ist nicht nur die nordirische Polizei überzeugt - ein Abkommen getroffen: Du hältst den Mund - wir lassen dich in Ruhe.

An diesen Deal fühlten sich jedoch nicht alle gebunden. Niemand weiß, was Donaldson dem MI5 genau erzählt hat und ob seine Informationen einst IRA-Mitglieder ins Gefängnis oder auf den Friedhof gebracht haben. Sicher ist, dass Informanten wie er in den achtziger Jahren eine Reihe von IRA-Aktionen fehlschlagen ließen, bei denen IRA-Mitglieder erschossen wurden - darunter zahlreiche Kritiker des auf Kompromisse zielenden Kurses der IRA/Sinn-Féin-Spitze um Gerry Adams. Die britischen Geheimdienste, soviel steht fest, haben Adams´ Aufstieg zum verlässlichen Verhandlungspartner auf ihre Art erleichtert.

Paisleys Auferstehung

Währenddessen feierte Ian Paisley Anfang April seinen 80. Geburtstag. Im April 1998, kurz vor der Unterzeichung des Karfreitagsabkommens, war er noch mit Cheerio-Rufen aus einer Pressekonferenz gejagt worden, weil die Journalisten und die ebenfalls anwesenden protestantischen Politiker seine ewig-gestrige Litanei nicht mehr hören wollten. Er sei ein Relikt, hieß es damals. Als Paisley vor zwei Jahren schwächelte, setzten alle auf Peter Robinson, seinem moderaten Stellvertreter. Doch Hoffnungen auf eine schnelle biologische Lösung sind mittlerweile verflogen. Paisley ist bei guter Gesundheit und erfreut sich mitsamt seiner Familie großer Beliebtheit - auch in höchsten Kreisen. Kurz vor Ostern adelte die britische Regierung seine Frau Eileen: Tony Blair berief sie als Baroness Paisley of St. George ins britische Oberhaus. Auch David Trimble, der frühere Regionalpremier von Nordirland, wurde zum Lord ernannt.

Noch herrscht in der Provinz Ruhe. Die ersten der rund 3.000 protestantischen Umzüge blieben friedlich. Aber alle können sich noch an den letzten September erinnern: Da kam es bei Märschen des Oranier-Ordens in Nordbelfast zu den größten Straßenschlachten mit Hunderten von Verletzten. Und dies in Zeiten des Friedensabkommens.

Das Karfreitagsabkommen

Mit dem am Karfreitag 1998 unterzeichneten Abkommen gab die Republik Irland den Verfassungsanspruch auf die sechs Grafschaften im Norden der Insel auf. Gleichzeitig verzichtete Britannien auf die Provinz Ulster, sollte eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung einen Anschluss an Irland befürworten. Die Vertragsparteien - die Regierungen in London und Dublin und alle großen Parteien Nordirlands - einigten ich darüber hinaus auf die Bildung einer Regionalversammlung. Deren Entscheidungen müssen von jeweils der Mehrheit der insgesamt 108 Abgeordneten beider Bevölkerungsgruppen gutgeheißen werden.

Diese Kammer wählt eine nach dem Proporz der Fraktionen zusammengesetzte Regionalregierung - die größte Partei stellt den Ersten Minister, die zweitgrößte dessen Stellvertreter. Derzeit hätte der protestantische Prediger Paisley Anspruch auf das Führungsamt, der Sinn Féin-Politiker Martin McGuinness auf das des Zweiten Ministers. Teil des Karfreitagsabkommens waren auch eine Polizeireform, die vorzeitige Freilassung der politischen Gefangenen und eine Entwaffnung der paramilitärischen Verbände. Die IRA hat ihr Arsenal aufgelöst - ein ähnlicher Schritt der Loyalisten steht aus.



* Aus: Freitag 17, 28. April 2006


Zurück zur Nordirland-Seite

Zurück zur Homepage