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Gewaltausbruch in Nordirland

Republikaner erinnern an Internierung, pro-britische Loyalisten randalieren

Von Florian Osuch *

In Nordirland ist es erneut zu einem Ausbruch der Gewalt gekommen. Am Freitag abend lieferten sich pro-britische Extremisten in der Hauptstadt Belfast heftige Ausschreitungen mit der Polizei. Nach Angaben von Polizeipräsident Matt Baggott wurden 56 seiner Kollegen durch Stein- und Flaschenwürfe verletzt, vier Beamte mußten im Krankenhaus behandelt werden. Scheiben von Geschäften wurden zertrümmert, ein irischer Pub attackiert und mehrere Fahrzeuge in Brand gesetzt. Die Polizei ging mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Plastikgeschossen gegen die Randalierer vor. Acht Personen seien festgenommen worden.

Anlaß der Ausschreitungen war ein von irischen Organisationen durchgeführter Gedenkmarsch, der vom Norden der Stadt durch das Zentrum in die republikanische Hochburg Westbelfast führte. Die Demonstration erinnerte an die Einführung der Internierung irischer Bürger am 9. August 1971. Bei der Massenfestnahme wurden damals mehrere hundert Personen ohne Gerichtsurteil festgehalten. Um gegen den Gedenkmarsch zu protestieren, hatten sich bis zu eintausend pro-britische Loyalisten bereits am Nachmittag in der Innenstadt von Belfast versammelt. Die Krawalle waren so heftig, daß die Polizei den von der »Anti Internment League« organisierten Umzug umleiten mußte. Die Ausschreitungen stießen parteiübergreifend auf Verurteilungen. Polizeiführer Baggott sprach von »sinnloser Anarchie« und die britische Nordirlandministerin Theresa Villiers von einem »bedauerlichen Rückschritt« im Friedensprozeß. Ähnlich äußerten sich auch Vertreter der bürgerlichen, pro-britischen Democratic Unionist Party (DUP) und der pro-irischen Social Democratic Labour Party (SDLP).

Gerry Kelly von der irischen Sinn Féin stellt sich vor die Teilnehmer der Gedenkdemonstration. Von ihnen sei keine Gewalt ausgegangen. Kelly, ehemaliger Kämpfer der Untergrundarmee IRA und inzwischen Abgeordneter im nordirischen Parlament, machte den radikalen Oranier-Orden und pro-britische Paramilitärs für die Ausschreitungen verantwortlich. Er forderte die ultrareligiösen Ordensmänner auf, ihre Verbindungen zur Miliz »Ulster Volunteer Force« (UVF) offenzulegen. Die den Paramilitärs nahestehende »Progressive Unionist Party« versuchte sich in Erklärungen für die Krawalle. Parteichef Billy Hutchinson zufolge würden die Vorkommnisse zeigen, wie weit weg man sich vom Friedensprozeß befände. Er sprach von einem »Volkszorn« der britischen Arbeiterklasse gegen eine fortschreitende »Entbritisierung« Nordirlands. Dieser »Zorn« entlud sich in diesem Jahr damit bereits zum dritten mal. Im Januar gab es Ausschreitungen, weil das Stadtparlament von Belfast die britische Flagge nur noch an Feiertagen auf dem Rathaus hissen wird. Mehrere Wochen hielt der sogenannte Flaggenstreit an (jW berichtete), Nacht für Nacht kam es zu Randalen. Als es Mitte Juli dem Oranier-Orden bei einem ihrer jährlich über eintausend Märsche untersagt wurde, gleich zweimal an einem Tag durch ein mehrheitlich von Iren bewohntes Viertel zu ziehen, eskalierte die Situation erneut. Mehrere Tage und Nächte in Folge lieferten sich pro-britische Loyalisten Kämpfe mit der Polizei.

Durch die Krawalle vom Freitag rückte das Anliegen der Gedenkdemonstration in den Hintergrund. Die britische Besatzungsmacht ließ im August 1971 Hunderte irische Bürger in Nordirland ohne Gerichtsbeschluß oder Urteil internieren. Die Massenfestnahme führten zu schweren Unruhen, vor allem in Belfast und Derry. Innerhalb von 48 Stunden starben 17 Menschen.Im Zuge der sogenannten Operation Demetrius konnte sich die Irisch Republikanische Armee (IRA) jedoch als Schutzmacht für die irische Bevölkerungsminderheit in Nordirland etablieren. Erst im Dezember 1975 wurden die letzten Internierten entlassen. Unter den Insgesamt 1981 festgehaltenen Personen waren 1874 irische Republikaner und 107 pro-britische Loyalisten.

* Aus: junge welt, Montag, 12. August 2013


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