Nordirland: "Der Frieden hat eine Zukunft"
David Ervine, Chef der unionistischen PUP, im Interview
Der Friedensprozess in Nordirland, der mit dem Karfreitagsabkommen 1998 so hoffnungsvoll begonnen hatte, ist auf halbem Wege stecken geblieben. Seit Monaten vergeht kaum eine Woche, wo nicht neue Feindseligkeiten zwischen "Unionisten" und "Republikanern", "Protestanten" und "Katholiken" gemeldet werden. Die Auseinandersetzungen spielen sich zunehmend auch innerhalb der ehedem geschlossenen Blöcke ab. Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview mit einem führenden Vertreter der Unionistenpartei PUP. David Ervine ist Chef der mit
den Paramilitärs der Ulster Volunteer Force eng verbundenen pro-britischen Progressive
Unionist Party (PUP) und Abgeordneter im nordirischen Regionalparlament. Der einstige
UVF-Terrorist wurde 1974 wegen Sprengstoffbesitz zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Als einzige unionistische Partei stellt sich die PUP eindeutig hinter das
Karfreitagsabkommen, der politischen Grundlage des Friedensprozesses. Mit dem 49-jährigen
Politiker sprach Mattes Standke. Das Interview wurde am 21. August im "Neuen Deutschland" veröffentlicht.
ND: Seit Monaten gewalttätige Auseinandersetzungen auf der Straße, dazu
andauernde
politische Querelen – ist der Friedensprozess am Ende?
Wir stecken ganz offensichtlich in Schwierigkeiten. Viele Leute haben
kein Vertrauen mehr in die
Politiker, die diesen Prozess realisieren sollen. Genauso sind aber auch
etliche Politiker nicht
mehr überzeugt von den Zielen des Karfreitagsabkommens. Nach der
Unterzeichnung 1998
begannen wir unsere Arbeit mit großer Euphorie. Doch schon kurz darauf
kamen erste
Unstimmigkeiten auf, und wir Politiker haben es nicht geschafft, die
Karre wieder aus dem Dreck
zu ziehen und uns gemeinsam in den Dienst der Problemlösung zu stellen.
Stattdessen verfiel man
in alte Grabenkämpfe, versuchte, immer mehr Zugeständnisse aus London
herauszupressen, die
dann die Gegenseite aufbringen. Wir könnten viel weiter sein. Das wissen
auch die Nordiren, und
deshalb sind viele einfach frustriert.
ND: Wie erklären Sie sich die steigende Zahl von Unionisten, die sich
abwenden?
Schon vor dem Karfreitagsabkommen waren unter den Unionisten viele gegen
solche Prinzipien wie
die überkonfessionelle Zusammenarbeit oder eine gerechte Verteilung der
Machtstrukturen. Bei
Reformen denken sie noch immer: Wenn es gut für die anderen ist, kann es
doch nur schlecht für
uns sein. Aber auch Sinn Feín und die IRA stecken in einem Dilemma, denn
sie sagen ihren
Anhängern nicht die Wahrheit. Längst haben sie den Status quo, dass
Nordirland ein legitimer Teil
des Vereinigten Königreiches ist, akzeptiert. Was sie ja mit ihrer
Unterschrift unter das
Karfreitagsabkommen bestätigt haben. Sie selbst arbeiten doch bereits in
der Verwaltung und
stellen zwei Minister. Ein vereintes Irland, wie sie es wollen, kann nur
auf demokratischem Wege
entstehen, was – auf Grund der demographischen Ent-
wicklung – wenn überhaupt erst in Jahrzehnten möglich wäre. Das alles
entspricht so natürlich
nicht der republikanischen Ideologie. Doch sie sagen ihren Leuten nicht,
dass sie diese alte
Ideologie längst aufgegeben haben.
ND: Hat der Friedensprozess bei solchen Zerwürfnissen überhaupt noch
Zukunft?
Natürlich, unsere Gesellschaft ist sehr wohl im Stande, Frieden zu
schließen. Das Problem sind
derzeit die Führer der Gesellschaft, die nur bedingt oder auch gar nicht
mit gutem Vorbild
voranschreiten. Nordirlands Parteichefs wollen nie als schwach oder
entgegenkommend gesehen
werden. Besonders bei den unionistischen Abkommensgegnern ist dann
gleich von einem
»Ausverkauf der Werte« oder faulen Kompromissen die Rede. Dennoch haben
wir uns mit der
Friedensvereinbarung auf Institutionen und Mechanismen geeinigt, um
unsere Gesellschaft
gemeinsam zu führen.
ND: Das katholische Short-Strand-Viertel in Ost-Belfast spürt vom
Frieden in letzter Zeit gar
nichts. Auch die Ihrer Partei nahe stehenden Paramilitärs der UVF werden
für Attacken
verantwortlich gemacht.
Die UVF gibt es in Belfast schon seit 30 Jahren. Die Gewalt in Short
Strand aber erst seit drei
Monaten. Das zeigt, dass die UVF nicht generell Interesse an Spannungen
in solchen Gegenden
hat. Egal ob Katholik oder Protestant, wenn man in Vierteln wohnt, die
regelmäßig attackiert
werden, ist es für jeden Menschen schlimm. Die meisten Leute, die dort
leben, wollen Ruhe und
Frieden. Auch wenn es in Short Strand gerade besonders schlimm ist, es
gibt inzwischen viele
solcher Enklaven, in denen es ruhig ist. Wenn in Ost-Belfast also
Attacken stattfinden, müssen wir
Wege finden, Gegenschläge zu vermeiden, um die Spirale der Gewalt zu
durchbrechen. Wenn
republikanische Jugendliche mein Viertel angreifen, und ich habe 30
Jahre lang neben einem
katholischen Viertel gelebt, dann greife ich zum Telefon, rufe ihren
Stadtrat an und sage: »Tut was
dagegen, holt eure Leute von der Straße.« Solche Telefonaktionen gibt es
bereits in vielen Teilen
der Stadt. Daran müssen wir arbeiten, anstatt immer neue Mauern zu
errichten.
ND: Eine Schlüsselfrage ist die Polizei. Wie stehen Sie zu ihrer von
Unionisten als zu
harsch und von Republikanern als nicht weitgehend genug kritisierten
Reform?
Wir brauchen Veränderung, und das nicht nur bei der Polizei. Es sind
auch andere Institutionen
reformiert worden. Die Unionisten haben das zu akzeptieren. Allerdings:
Sinn Feín repräsentiert
etwa 20 Prozent aller Nordiren, das heißt, etwa 80 Prozent der
Bevölkerung unterstützen unsere
Polizei. Natürlich ist das für Sinn Feín ein schwieriges Thema.
Akzeptieren sie Polizei und britische
Armee als einzig legitime Sicherheitskräfte, wie wollen sie dann in
Friedenszeiten die Existenz der
IRA rechtfertigen?
ND: Zumindest bei sozialen Fragen hat Ihre Partei ja sehr ähnliche
Vorstellungen und
Ziele wie Sinn Feín, beide repräsentieren die Arbeiterklasse
Nordirlands.
Das ist richtig, und ich hoffe, dass wir uns eines Tages nur noch mit
»normaler« Politik, mit
sozialen und wirtschaftlichen Fragen beschäftigen müssen. Schon jetzt
gibt es viele Komitees und
Arbeitsgruppen, in denen unsere Parteien zusammenarbeiten. Es wird ganz
bestimmt eine Zeit
kommen, da wird die PUP neue und ungewohnte Partner haben.
ND: Im Karfreitagsabkommen heißt es, Nordirland werde solange Teil des
Vereinigten
Königreiches sein, wie es eine Mehrheit dort wünscht. Wenn sich eines
Tages die meisten
Nordiren der Republik Irland anschließen wollen, würden Sie dann eine
vereinte Insel
akzeptieren?
Ich habe das Abkommen und seinen Inhalt 1998 akzeptiert. Also werde ich
es auch in Zukunft tun,
ich bin Demokrat. Nur wird es wohl sehr schwierig, meine Wählerschaft
davon zu überzeugen, dass
sie eine solche Entscheidung dann ebenso zu akzeptieren hat, wie die
katholische Minderheit
heute protestantische Mehrheitsentscheidungen akzeptierten muss.
Aus: Neues Deutschland, 21. August 2002
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