Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nordirland: "Der Frieden hat eine Zukunft"

David Ervine, Chef der unionistischen PUP, im Interview

Der Friedensprozess in Nordirland, der mit dem Karfreitagsabkommen 1998 so hoffnungsvoll begonnen hatte, ist auf halbem Wege stecken geblieben. Seit Monaten vergeht kaum eine Woche, wo nicht neue Feindseligkeiten zwischen "Unionisten" und "Republikanern", "Protestanten" und "Katholiken" gemeldet werden. Die Auseinandersetzungen spielen sich zunehmend auch innerhalb der ehedem geschlossenen Blöcke ab. Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview mit einem führenden Vertreter der Unionistenpartei PUP. David Ervine ist Chef der mit den Paramilitärs der Ulster Volunteer Force eng verbundenen pro-britischen Progressive Unionist Party (PUP) und Abgeordneter im nordirischen Regionalparlament. Der einstige UVF-Terrorist wurde 1974 wegen Sprengstoffbesitz zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Als einzige unionistische Partei stellt sich die PUP eindeutig hinter das Karfreitagsabkommen, der politischen Grundlage des Friedensprozesses. Mit dem 49-jährigen Politiker sprach Mattes Standke. Das Interview wurde am 21. August im "Neuen Deutschland" veröffentlicht.


ND: Seit Monaten gewalttätige Auseinandersetzungen auf der Straße, dazu andauernde politische Querelen – ist der Friedensprozess am Ende?

Wir stecken ganz offensichtlich in Schwierigkeiten. Viele Leute haben kein Vertrauen mehr in die Politiker, die diesen Prozess realisieren sollen. Genauso sind aber auch etliche Politiker nicht mehr überzeugt von den Zielen des Karfreitagsabkommens. Nach der Unterzeichnung 1998 begannen wir unsere Arbeit mit großer Euphorie. Doch schon kurz darauf kamen erste Unstimmigkeiten auf, und wir Politiker haben es nicht geschafft, die Karre wieder aus dem Dreck zu ziehen und uns gemeinsam in den Dienst der Problemlösung zu stellen. Stattdessen verfiel man in alte Grabenkämpfe, versuchte, immer mehr Zugeständnisse aus London herauszupressen, die dann die Gegenseite aufbringen. Wir könnten viel weiter sein. Das wissen auch die Nordiren, und deshalb sind viele einfach frustriert.

ND: Wie erklären Sie sich die steigende Zahl von Unionisten, die sich abwenden?

Schon vor dem Karfreitagsabkommen waren unter den Unionisten viele gegen solche Prinzipien wie die überkonfessionelle Zusammenarbeit oder eine gerechte Verteilung der Machtstrukturen. Bei Reformen denken sie noch immer: Wenn es gut für die anderen ist, kann es doch nur schlecht für uns sein. Aber auch Sinn Feín und die IRA stecken in einem Dilemma, denn sie sagen ihren Anhängern nicht die Wahrheit. Längst haben sie den Status quo, dass Nordirland ein legitimer Teil des Vereinigten Königreiches ist, akzeptiert. Was sie ja mit ihrer Unterschrift unter das Karfreitagsabkommen bestätigt haben. Sie selbst arbeiten doch bereits in der Verwaltung und stellen zwei Minister. Ein vereintes Irland, wie sie es wollen, kann nur auf demokratischem Wege entstehen, was – auf Grund der demographischen Ent- wicklung – wenn überhaupt erst in Jahrzehnten möglich wäre. Das alles entspricht so natürlich nicht der republikanischen Ideologie. Doch sie sagen ihren Leuten nicht, dass sie diese alte Ideologie längst aufgegeben haben.

ND: Hat der Friedensprozess bei solchen Zerwürfnissen überhaupt noch Zukunft?

Natürlich, unsere Gesellschaft ist sehr wohl im Stande, Frieden zu schließen. Das Problem sind derzeit die Führer der Gesellschaft, die nur bedingt oder auch gar nicht mit gutem Vorbild voranschreiten. Nordirlands Parteichefs wollen nie als schwach oder entgegenkommend gesehen werden. Besonders bei den unionistischen Abkommensgegnern ist dann gleich von einem »Ausverkauf der Werte« oder faulen Kompromissen die Rede. Dennoch haben wir uns mit der Friedensvereinbarung auf Institutionen und Mechanismen geeinigt, um unsere Gesellschaft gemeinsam zu führen.

ND: Das katholische Short-Strand-Viertel in Ost-Belfast spürt vom Frieden in letzter Zeit gar nichts. Auch die Ihrer Partei nahe stehenden Paramilitärs der UVF werden für Attacken verantwortlich gemacht.

Die UVF gibt es in Belfast schon seit 30 Jahren. Die Gewalt in Short Strand aber erst seit drei Monaten. Das zeigt, dass die UVF nicht generell Interesse an Spannungen in solchen Gegenden hat. Egal ob Katholik oder Protestant, wenn man in Vierteln wohnt, die regelmäßig attackiert werden, ist es für jeden Menschen schlimm. Die meisten Leute, die dort leben, wollen Ruhe und Frieden. Auch wenn es in Short Strand gerade besonders schlimm ist, es gibt inzwischen viele solcher Enklaven, in denen es ruhig ist. Wenn in Ost-Belfast also Attacken stattfinden, müssen wir Wege finden, Gegenschläge zu vermeiden, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Wenn republikanische Jugendliche mein Viertel angreifen, und ich habe 30 Jahre lang neben einem katholischen Viertel gelebt, dann greife ich zum Telefon, rufe ihren Stadtrat an und sage: »Tut was dagegen, holt eure Leute von der Straße.« Solche Telefonaktionen gibt es bereits in vielen Teilen der Stadt. Daran müssen wir arbeiten, anstatt immer neue Mauern zu errichten.

ND: Eine Schlüsselfrage ist die Polizei. Wie stehen Sie zu ihrer von Unionisten als zu harsch und von Republikanern als nicht weitgehend genug kritisierten Reform?

Wir brauchen Veränderung, und das nicht nur bei der Polizei. Es sind auch andere Institutionen reformiert worden. Die Unionisten haben das zu akzeptieren. Allerdings: Sinn Feín repräsentiert etwa 20 Prozent aller Nordiren, das heißt, etwa 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen unsere Polizei. Natürlich ist das für Sinn Feín ein schwieriges Thema. Akzeptieren sie Polizei und britische Armee als einzig legitime Sicherheitskräfte, wie wollen sie dann in Friedenszeiten die Existenz der IRA rechtfertigen?

ND: Zumindest bei sozialen Fragen hat Ihre Partei ja sehr ähnliche Vorstellungen und Ziele wie Sinn Feín, beide repräsentieren die Arbeiterklasse Nordirlands.

Das ist richtig, und ich hoffe, dass wir uns eines Tages nur noch mit »normaler« Politik, mit sozialen und wirtschaftlichen Fragen beschäftigen müssen. Schon jetzt gibt es viele Komitees und Arbeitsgruppen, in denen unsere Parteien zusammenarbeiten. Es wird ganz bestimmt eine Zeit kommen, da wird die PUP neue und ungewohnte Partner haben.

ND: Im Karfreitagsabkommen heißt es, Nordirland werde solange Teil des Vereinigten Königreiches sein, wie es eine Mehrheit dort wünscht. Wenn sich eines Tages die meisten Nordiren der Republik Irland anschließen wollen, würden Sie dann eine vereinte Insel akzeptieren?

Ich habe das Abkommen und seinen Inhalt 1998 akzeptiert. Also werde ich es auch in Zukunft tun, ich bin Demokrat. Nur wird es wohl sehr schwierig, meine Wählerschaft davon zu überzeugen, dass sie eine solche Entscheidung dann ebenso zu akzeptieren hat, wie die katholische Minderheit heute protestantische Mehrheitsentscheidungen akzeptierten muss.

Aus: Neues Deutschland, 21. August 2002


Zurück zur Nordirland-Seite

Zurück zur Homepage