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IRA-Attentäter

Auch Irland hat Probleme mit der Freilassung von IRA-Häftlingen

Das Karfreitagsabkommen 1998 und zahlreiche weitere Übereinkünft im Gefolge des Friedensprozesses in Nordirland haben die Gefängnisse für die inhaftierten IRA-Kämpfer geöffnet. Nun könnte man meinen, dass die in der Republik Irland inhaftierten IRA-Attentäter auch in den Genuss der vereinbarten Amnestie kommen sollten. Doch Dublin tut sich schwer damit. Den Hintergrundbericht über einen Aspekt der irischen troubles, der in der öffentlichen Diskussion wenig beachtet wird, haben wir der Neuen Zürcher Zeitung entnommen.

Irlands Gewissenskonflikt um IRA-Häftlinge

Die Konsequenzen eines pragmatischen Friedensschlusses

Nur noch die Republik Irland und die USA halten Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) in Haft. Die gegenwärtige Diskussion in Irland um die Sonderbehandlung der letzten IRA-Gefangenen gewährt Einsichten in die Mentalität der Republik.

«Genauso wie alle Kriege lediglich die Umsetzung einer selektiven Unmoral darstellen», schrieb der kämpferische Kolumnist Kevin Myers unlängst in der «Irish Times», «so wird auch ihr Abschluss aus demselben stinkigen Tuch gewoben.» Anlass dieser Betrachtungen bildete die Frage, ob die irische Regierung die letzten fünf Angehörigen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) vorzeitig aus ihren Gefängnissen entlassen soll oder nicht. Es handelt sich um die letzten inhaftierten Mitglieder der Stamm-IRA auf den Britischen Inseln, seit das nordirische Hochsicherheitsgefängnis Maze Ende Juli seine Tore öffnete, um die übelsten Mörder, Heckenschützen und Bombenleger der letzten zehn Jahre auf freien Fuss zu setzen. Die britische Regierung hatte sich damit peinlich genau an den letztmöglichen Termin gehalten, den das Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 für die vorzeitige Entlassung aller paramilitärischen Gefangenen vorschrieb, deren Organisationen sich glaubwürdig an den Waffenstillstand hielten.

Schockierender Überfall

Die Republik Irland war seit dem ersten Waffenstillstand der IRA im Spätsommer 1994 grosszügig mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte zahlreiche IRA-Häftlinge vorzeitig entlassen, um den republikanischen Militaristen die Wirksamkeit friedlicher Methoden zu beweisen. Doch für die letzten fünf galten andere Regeln: Sie sitzen alle wegen eines brutalen Raub- und Mordüberfalls im malerischen Dorf Adare in der westirischen Grafschaft Limerick hinter Gittern. Im Juni 1996, wenige Monate nachdem die IRA ihren ersten Waffenstillstand gebrochen hatte, wurde Jerry McCabe brutal ermordet. McCabe, Detektiv der irischen Polizei, hatte zusammen mit einem Kollegen einen Geldtransport bewacht. Der andere Beamte wurde schwer verletzt. Die Attentäter, die sich durch besondere Brutalität auszeichneten, entkamen ohne Beute. Der irische Staat reagierte mit grösster Empörung auf diesen direkten Angriff. Die Regierung erschien praktisch vollzählig am riesigen Begräbnis McCabes, Premierminister Bruton drückte damals seinen Zorn über die Doppelzüngigkeit der Sinn-Fein- Partei ungeschminkt aus. Die IRA allerdings distanzierte sich vom Anschlag, was der Regierung seither als Begründung dafür dient, die Verurteilten anders als «normale» IRA-Häftlinge zu behandeln.

Unmittelbar nach dem Karfreitagsabkommen und noch vor den Volksabstimmungen über diesen Friedensvertrag hielt die irische Regierung unmissverständlich fest, jegliche Amnestie werde die Attentäter von Adare ausschliessen. Offenbar war dieser Sachverhalt schon während der Verhandlungen klargestellt worden, wobei Sinn Fein die Ausnahme nie offiziell akzeptiert hatte. Als die Täter, teilweise notorische IRA-Männer, im Januar 1999 schliesslich vor Gericht gestellt wurden, musste sich die Staatsanwaltschaft zähneknirschend mit einer Verurteilung wegen Totschlags zufriedengeben, denn die wichtigsten Zeugen für eine Mordanklage weigerten sich in letzter Minute, ihre Aussagen zu wiederholen. Einmal mehr hatte die IRA die Fundamente des irischen Gemeinwesens mit Einschüchterung und Gewalt erfolgreich unterwandert.

Die kollektive Illusion der irischen Gesellschaft, der Nordirlandkonflikt finde ausserhalb des Staates statt, hatte sich als fadenscheinig erwiesen. Sämtliche Parteien Irlands, mit Ausnahme Sinn Feins, wenden sich seither gegen eine vorzeitige Entlassung der fünf Männer, von denen vier aus der Republik stammen.

Zweierlei Mass

Als die nordirischen Häftlinge freigelassen wurden, ist in der Republik eine Diskussion über die wahren Gründe der Sonderbehandlung ausgebrochen, die den Mördern von Jerry McCabe zuteil wird. Gilt das Leben eines nordirischen Polizisten weniger als das eines Angehörigen der Garda Siochana, der (unbewaffneten) irischen Polizei? Wurden der Ekel und der Schmerz der nordirischen Opfer zu gering geschätzt, als sie den Mördern ihrer Verwandten und Freunde plötzlich wieder auf offener Strasse begegnen mussten? Die liberalsten Stimmen im irischen Blätterwald, zeitkritische Beobachter wie Mary Holland, Fintan O'Toole und Stephen Collins, fordern nun unumwunden die Entlassung der fünf Männer. Selbst die bis zur Harmlosigkeit gemässigte Allianzpartei Nordirlands witterte Doppelbödigkeit im Süden. «Justiz geht nicht bloss um Vergeltung», schrieb O'Toole, «sondern auch um Konsistenz. Es ist ungerecht, wenn man jene, die sich ähnlicher Verbrechen schuldig machten, fundamental anders behandelt. Und es ist unmoralisch, von andern zu verlangen, was wir selbst nicht ertragen wollen.»

Mehrere Wortmeldungen entdeckten eine drohende Komplizität der irischen Gesellschaft mit den pervertierten Massstäben der IRA: Denn in der Tat verbot die IRA ihren Mitgliedern, die Organe des irischen Staates zu attackieren. «Aber wenn man das als fundamentalen Unterschied billigt, übernimmt man die Moralvorstellungen der IRA», kommentiert O'Toole nüchtern. Und Collins geht noch einen Schritt weiter im selben Gedankengang: Die Andersbehandlung der Mörder eines irischen Polizisten erlaubt der IRA, ihre restlichen Greueltaten der letzten dreissig Jahre zu rechtfertigen. Collins unterstreicht die gänzliche Absenz jeglicher Reue auf Seiten der IRA und zieht daraus beunruhigende Schlüsse für die Zukunft. Tatsächlich hat sich die IRA, im Gegensatz zu den protestantischen Terrorkommandos, nie für ihre Gewalttaten entschuldigt. Ihre letzten Häftlinge wurden vielmehr triumphal an den Toren des Maze-Gefängnisses begrüsst und als Helden gefeiert.

Die Teilung Irlands

Die irische Regierung beharrt derweil auf ihrer Haltung. Der eingangs zitierte Myers teilt ihre Meinung: «Schliesslich gibt es weder in der Führung eines Konfliktes noch bei dessen Beendigung moralische Absolutheiten.» Myers spricht aus, was alle wissen, dass nämlich die Rechtsgrundlage der Regierungsposition ausgesprochen fragil ist. Er akzeptiert, dass die fünf über kurz oder lang freigelassen werden, aber er will sie mit allerlei Spitzfindigkeiten möglichst lange im Kerker schmoren lassen, denn schliesslich sei Sinn Fein die anerkannte Meisterin im Haarspalten. «Bei der Beendigung von Kriegen am Verhandlungstisch gibt es weder Konsistenz noch Klarheit noch Gleichheit, höchstens Inkonsistenz, Opportunismus und bequemen Gedächtnisschwund.» Selbst die strenge «Irish Times» konnte sich in ihrem jüngsten Leitartikel zum Thema nicht zu einer klaren Stellungnahme durchringen. Sie prognostizierte stattdessen glaubwürdig, dass Irlands Gerichte dereinst die Kastanien aus dem Feuer holen müssen, wenn die Häftlinge den irischen Staat verklagen. Die Regierung müsste sich dann nicht des Wortbruchs beschuldigen lassen, aber die Grundsatzfrage bliebe unbeantwortet: Ist die irische Gesellschaft zu Opfern im Interesse des Friedens bereit?

Der Verdacht drängt sich auf, dass die Republik sich nicht als Teil des Konflikts sieht und daher keine echte Partnerin des Nordens im Frieden sein kann. Der Prozess des Konflikts hat die Teilung der Insel vollzogen, die Republik sieht sich als grosszügige Vermittlerin, um den Schandfleck in ihrem Hinterhof zu beseitigen - eine Haltung, die der britischen zum Verwechseln ähnlich geworden ist. Nicht zuletzt deswegen sind die jüngsten Aufrufe des Präsidenten von Sinn Fein, Adams, an die Unionisten, ihr Heil in einem vereinigten Irland zu suchen, weltfremd. Dublin fürchtet die Unionisten nicht, wohl aber die Republikaner.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 19.08.2000

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