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"Gewaltphasen wird es geben, solange die Briten hier sind"

Bürgerrechtler Gerry Ruddy: Die relative Armut ist eine der Ursachen für das neuerliche Aufflackern der Gewalt in Nordirland

Gerry Ruddy gehörte in den späten 60er Jahren zu den Gründern der nordirischen Bürgerrechtsbewegung People's Democracy (Volksdemokratie). 1974 war er an der Bildung des politischen Arms der Nationalen Befreiungsarmee Irlands (INLA) beteiligt. In den 90er Jahren war Ruddy Generalsekretär und politischer Sekretär der von ihm mitgegründeten Irisch Republikanischen Sozialistischen Partei (IRSP). Über die Gründe für den jüngsten Gewaltausbruch in Nordirland sprach mit ihm in Belfast Samuel Stuhlpfarrer.



Worin liegen die Gründe für das Wiederaufflammen der Gewalt in Nordirland?

Die Anschläge haben ihren Grund in der zunehmenden Unzufriedenheit mit der Strategie der Partei Sinn Féin. Alle Gruppen, die zuletzt Anschläge verübt haben, haben sich irgendwann von der irischrepublikanischen Partei abgespalten. Sie dachten, dass der bewaffnete Kampf die geeignete Methode wäre, um Irlands Freiheit zu erzwingen. Der von Sinn Féin geforderte Schritt, dass neuerdings Republikaner dem Polizeidienst PSNI über die Aktivitäten anderer Republikaner zu berichten hätten, war für viele ein Schritt zu weit.

Liegt eine Ursache für die neuerliche Gewalt vielleicht auch darin, dass das Karfreitagsabkommen von 1998 die soziale Situation der katholischen Bevölkerung nicht verbessert hat?

Ich würde nicht sagen, dass sich die soziale Lage der Katholiken nicht verbessert hat. Wahrscheinlich haben die protestantischen Arbeiter seit 1998 sogar weniger als die Katholiken profitiert. Das Problem ist, dass mit der weltweiten Wirtschaftskrise viele Unternehmen, die in den letzten Jahren hier investiert haben, ihre Fabriken schließen. Eben erst hat Ford angekündigt, einen Autozulieferer in Belfast zu schließen und 400 Arbeiter zu entlassen. Und Gerry Adams und seine Sinn Féin haben darauf natürlich keine Antwort, weil sie ja all das, was an ihrem Republikanismus noch sozialistisch war, mit Beginn des Frie-densprozesses aufgegeben haben.

Also besteht ein Zusammenhang zwischen den Auswirkungen der Krise und den jüngsten Gewaltausbrüchen?

Phasen von gewaltsamen Unruhen wird es immer geben, solange die Briten hier sind. Dennoch: Es gibt einen nicht zu leugnenden Zusammenhang zwischen der relativen Armut und der Bereitschaft, sich gewaltsam der herrschenden Klasse entgegenzustellen. Das Zentrum des gewalttätigen Widerstands in Belfast beispielsweise war immer Lower Falls, da, wo die Ärmsten der katholischen Bevölkerung leben. Die Arbeitslosigkeit in West-Belfast beträgt zwar »nur« fünf bis sechs Prozent, aber diese Zahl trügt. Fast 50 Prozent derjenigen, die hier leben arbeiten nicht, weil sie in Rente, Frührente oder aus den verschiedensten Gründen erwerbsunfähig sind.

In den Wohnvierteln von Belfast und Derry, in denen Katholiken und Protestanten nebeneinander leben, kam es zuletzt zu einem massiven Anstieg religiös motivierter Gewalttaten.

Das ist besorgniserregend. Die IRSP versucht, den mehrheitlich jungen Leuten in den katholischen Vierteln, die in diese Gewalttaten verwickelt sind, zu erklären, dass das Mist ist. Es kostet Kraft, ist dumm und bietet keinerlei politische Perspektive. Seit 40 Jahren versuchen wir, der protestantischen Arbeiterklasse klar zu machen, dass die Unionisten (protestantische Regierungspartei – d. Red.) auch gegen ihre fundamentalen Interessen handeln. Wenn wir weiter Steine auf sie werfen, werden sie uns das aber nicht abnehmen.

Hat die IRSP beziehungsweise die INLA der Gewalt endgültig abgeschworen?

Die INLA befindet sich im Waffenstillstand und es gibt im Moment keinen Grund, wieder zu den Waffen zu greifen. Unsere Position in diesem Zusammenhang ist ziemlich klar: Der Weg des individuellen Terrors ist nicht geeignet, um ein vereinigtes Irland zu erreichen. Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, mit den Arbeitern in Kontakt zu kommen, und zwar mit katholischen wie auch mit protestantischen. Und wir müssen sie zur Aktion motivieren, um die laufenden Angriffe auf unsere Lebensgrundlagen, die mit der Besatzung Hand in Hand gehen, abzuwehren. Das ist sicherlich eine Perspektive auf lange Sicht, aber es ist die einzige, die ich im Moment sehe.

* Aus: Neues Deutschland, 20. April 2009


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