Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nordirland: Misshandlungen in der Uniform der Königin

Nicht nur im Irak wird gefoltert. Ein Kommentar der Kampagne "Save the Good Friday Agreement"

Die mutmaßliche Beteiligung britischer Soldaten an Folterungen und Misshandlungen von irakischen Gefangenen lenkt den Blick auf einen weiteren Krisen- bzw. Kriegsherd: Nordirland. Im Folgenden dokumentieren wir einen Kommentar, den uns Uschi Grandel von der Kampagne "Save the Good Friday Agreement" ("Rettet das Karfreitagsabkommen") zusandte. Der Text befindet sich auch auf der Homepage der Kampagne: www.info-nordirland.de


Nicht nur im Irak und keine Einzelfälle

11. Mai 2004

Die Weltöffentlichkeit blickt mit Abscheu auf die Berichte über Folterungen von Irakern durch amerikanische und britische Besatzer und es ist ein kleiner Erfolg, dass es der amerikanischen Regierung bisher nicht geglückt ist, ihre Verbrechen unter den Teppich zu kehren.

Und Großbritannien? Wie wenig ernst es der britischen Regierung mit einer lückenlosen Aufklärung ist, zeigt der Skandal um Folter und Mord an irakischen Gefangenen in Basra. Bereits im Januar hatte der irische Journalist Robert Fisk darüber berichtet:

Leutnant Daoud Mousa von der irakischen Polizei sah seinen Sohn am 14. September das letzte Mal lebend, als Soldaten das Hotel in Basra durchsuchten, in dem der junge Mann an der Rezeption arbeitete.

"Er lag mit den anderen sieben Angestellten auf dem Marmorfussboden und hatte die Hände hinter dem Kopf", erzählt Leutnant Mousa. "Du brauchst keine Angst zu haben, sagte ich ihm, ich habe mit dem britischen Offizier geredet und der sagt, Du bist in ein paar Stunden wieder frei. ... Drei Tage später brachten sie mir die Leiche meines Sohnes". Die Briten kamen und sagten mir, er sei im Gewahrsam gestorben. Seine Nase war gebrochen, er blutete über dem Mund und ich konnte blaue Flecke in der Rippengegend erkennen. Die Haut an den Handgelenken war abgeschürft."

Baha Mousa hinterlässt zwei kleine Jungen, den fünfjährigen Hassan und den dreijährigen Hussein. Beide sind nun Waisen, weil Bahas Ehefrau ein halbes Jahr vor seinem Tod an Krebs gestorben war.

Amnesty International hat unabhängige Untersuchungen des Todes von Baha und der Misshandlungen der anderen Irakischen Gefangenen gefordert. Der Verteidigungsminister versucht jedoch, die Untersuchungen ausschliesslich innerhalb der Armee durchzuführen. Zwei Soldaten, die ursprünglich wegen des Mordes an Baha verhaftet worden waren, sind wieder auf freiem Fuss. Bahas Familie ist empört. "Wir werden die britische Armee in London verklagen", sagt sein Bruder Alaa. "Sie gaben uns $ 3,000 Kompensation und boten uns weitere $ 5,000 - weigern sich aber, die Verantwortung für den Mord zu übernehmen."

Wir lehnen das Geld ab. Wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen, dass die Soldaten bestraft werden. Wieviel Geld würde eine britische Familie erhalten, wenn ihr unschuldiger Sohn von Eueren Soldaten verhaftet und zu Tode geprügelt würde?"

Am 3. Mai 2004 schreibt die DPA zu neuen Anschuldigungen gegen die britischen Streitkräfte:
"Die Briten verwenden große Mühe darauf, sich im Irak von der "Cowboy-Strategie" der Amerikaner abzusetzen. Wer sie in Basra besucht, der wird schnell auf ihre lange Erfahrung in Nordirland hingewiesen, auf den höheren Ausbildungsstandard ihrer Soldaten. Doch jetzt sieht es mit einem Mal so aus, als hätten sich auch Soldaten "in der Uniform der Königin" schwerer Misshandlungen schuldig gemacht."

Der Zynismus, der sich hinter dem Verweis auf die nordirische Erfahrung versteckt, ist den meisten Lesern der DPA-Meldung und vermutlich auch dem Schreiber nicht bewusst. Folter und Mord an irakischen Gefangenen konnten nicht zuletzt auch deshalb geschehen, weil die britische Regierung in Nordirland jahrzehntelang die Erfahrung gemacht hat, dass das demokratische Europa der britischen Armee, ihren Geheimdiensten und Militärpolizisten den schmutzigen Krieg mit Folter und Mord weitgehend als innere Angelegenheit überlässt.

Und das, obwohl Menschenrechtsorganisationen wie z.B. Amnesty International immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen und schwerwiegende Verletzungen der Demokratie hingewiesen haben. Die nordirische Erfahrung zeigt auch, dass Erniedrigung und Entrechtung zwei Seiten einer Medallie sind. Dass die Gewalt der Besatzer mit einem Konfliktlösungsprozess nach langem blutigen Krieg nicht automatisch verschwindet. Im Gegenteil, demokratische Erneuerung muss gegen Widerstände hart erkämpft werden und bedarf unserer Unterstützung.

Im folgenden dokumentieren wir anhand einiger Beispiele, was unter "nordirischer Erfahrung" zu verstehen ist:

Folter:

4.500 Seiten mit Berichten von Folteropfern in Nordirland hat die Europäische Menschenrechtskommission (ECHR) Anfang der 70er Jahre zusammengestellt. Täter waren britischer Geheimdienst und britisches Militär. Die ECHR fand Großbritannien der Folter und der inhumanen, erniedrigenden Behandlung von Gefangenen schuldig.

Fünfundzwanzig verschiedene Foltermethoden wurden in dieser Zeit entwickelt und getestet: u.a. Sack über das Gesicht des Gefangenen, Überdehnen der Glieder und Schläge gegen die Gelenke, Elektroschocks, Einführen von Geräten in den Intimbereich, Urinieren auf einen Gefangenen, psychologische Folter durch Schüsse neben dem Gesicht oder Helikopterflüge mit der Androhung, den Gefangenen aus dem Helikopter zu werfen. Etliche dieser Foltermethoden finden sich auch auf den Bildern, die uns aus dem Irak erreichen, wieder.

Zusammenarbeit britischer staatlicher Stellen mit pro-britischen Todesschwadronen (Collusion):

Viel weiß man mittlerweile über diese Zusammenarbeit, der unbequeme Rechtsanwälte, Sinn Féin Aktivisten, IRA Mitglieder und unbeteiligte Zivilisten zum Opfer fielen. Zu viel, um Untersuchungen ganz abzuwiegeln. Stattdessen verlegen sich britische Regierung und die entsprechenden Stellen in den verschiedensten Geheimdiensten, der Polizei und dem Militär auf das Vertuschen.

Bericht des unabhängigen kanadischen Richters Cory, Dezember 2003:
Peter Cory untersuchte prominente Morde des Nordirlandkonflikts auf die Frage, ob es eine Verstrickung staatlicher Stellen in diese Morde gab. Der Bericht von Cory wurde erst nach monatelangem Zögern im April 2004 von der britischen Regierung veröffentlicht. Trotz erdrückender Beweise für die Beteiligung staatlicher Stellen am Mord des Rechtsanwalt Pat Finucane im Jahr 1989 weigert sich die britische Regierung, eine öffentliche Untersuchung einzuleiten.

Der Inhalt der jahrzehntelangen, tonnenschweren Untersuchungen des Polizeiinspektors Stevenson ist bis auf wenige Seiten Geheimsache.
"Was der Bericht freilich enthüllt, ist ein Bild unheilvoller Verquickung staatlicher Organe und protestantischer Terror-Organisationen während der nordirischen Troubles. Stevens zufolge ließen die Geheimdienste der Polizei und Armee in der Provinz Mitgliedern loyalistischer Gruppen regelmäßig Informationen über Katholiken zukommen, die als Republikaner oder als republikanische Sympathisanten und damit als legitime Ziele loyalistischer Mordaktionen betrachtet wurden. Die betreffenden Beamten halfen bei der Organisation von Überfällen, lieferten den Tätern Waffen und verschafften ihnen Alibis. Gelegentlich waren sie auch selbst an den Morden beteiligt." (Frankfurter Rundschau, 19.4.2003)

Gewalttaten gegen irische Viertel:

Bewohner kleiner irischer Viertel sind Pogromen pro-britischer Terrorgruppen schutzlos ausgeliefert und erhalten keinen Polizeischutz. Mehrere hundert Rohrbomben wurden von pro-britischen Terrorgruppen auf irische Viertel geworfen, Menschen werden immer noch aus dem einen Grund ermordet: weil sie Katholiken sind. Wie z.B. der junge Postbote Daniel McColgan im Januar 2002. Niemand wurde für die Morde und Anschläge je zur Rechenschaft gezogen. Die Reform der Polizei und die Auflösung ihrer gefürchteten Folter- und Terrortruppe "Special Branch" ist eines der ungelösten Probleme des Konfliktlösungsprozesses.

"Stormont-Gate", Oktober 2002, andauernd bis heute:

Ein Grossaufgebot an gepanzerten Polizeifahrzeugen fuhr vor dem Regionalparlament Stormont auf, um eine Razzia in den Büroräumen der Sinn Féin Abgeordneten im Parlamentsgebäude durchzuführen. Der Büroleiter von Sinn Fein, sein Schwiegersohn und einige weitere Personen wurden verhaftet. Die Aktion diente angeblich der Zerschlagung eines Spionagerings der IRA und diente als Begründung für die Suspendierung der gewählten Regionalregierung Nordirlands durch die britische Regierung. Im Dezember 2003 wurden heimlich still und leise die Hauptanklagepunkte gegen die Angeklagten fallengelassen - ohne Begründung und ohne Prozess. Weder der Polizeichef Nordirlands noch der britische Nordirlandminister mussten wegen des massiven Eingriffs in die Rechte von Parlamentariern und in den demokratischen Prozess Rechenschaft ablegen oder gar zurücktreten.

Einschüchterung und Bedrohung von Abgeordneten:

Seit dem Wahlerfolg der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin im Dezember 2003, der die Partei zur stärksten Kraft im irischen Lager machte, gibt es koordinierte Anschläge auf Wohnungen von Abgeordneten von Sinn Féin. Die präzise Planung der Anschläge ist ohne Informationen der Polizei schwer vorstellbar. Die Adressen stehen nicht einfach im Telefonbuch. Das letzte Opfer war die Stadträtin Veronica Willis, deren Fenster durch Wurfgeschosse zertrümmert wurden. Auf die Wohnung ihres Stadtratskollegen Paul Butler waren direkt nach der Wahl im Dezember Schüsse abgegeben worden.

Diese Liste ist nicht ein Rückblick auf die dunklen Tage des offenen Konflikts. Dieser Filz aus Verstößen gegen die Demokratie, Gewalt und Desinformation bedroht ganz konkret und brandaktuell den Friedensprozess im Norden Irlands. Er bedroht damit den Versuch der Konfliktlösung durch demokratischen Wandel, der mit dem Waffenstillstand der IRA 1994 eingeleitet wurde und im Karfreitagsabkommen 1998 von den Parteien festgeschrieben wurde - auch von der britischen Regierung.

Ein erfolgreicher Friedensprozess in Nordirland, der die Würde der Menschen und ihre Grundrechte sichert, wäre ein wichtiges Zeichen, auch für den Irak. Es wäre ein Zeichen, dass die britische Regierung ihre Verantwortung ernst nimmt.

Ein Zeichen könnte die britische Regierung im Fall Peter McBride sofort setzen: der Belfaster Jugendliche Peter McBride wurde von den britischen Soldaten Wright und Fisher am 4. September 1992 ermordet. Das steht rechtsgültig fest. Seine Mörder sind immer noch Soldaten der britischen Armee und waren im Irak im Einsatz.

Die Mutter von Peter Mc Bride kämpft seit Jahren um die Entlassung der Mörder ihres Sohnes aus der Armee. Ihr letzter Gerichtstermin gegen die Weigerung des britischen Verteidigungsministers, ein entsprechendes Urteil eines Zivilgerichts umzusetzen, fand am 20. April 2004 statt. Sie schreibt in einer Stellungnahme:
"Erstaunt es uns, dass britische Soldaten in Basra glauben, sie hätten die Konsequenzen ihrer Mordtaten nicht zu fürchten, wenn sie als Beispiel zwei verurteilte Mörder in ihren Reihen haben? In jedem der vielen Gerichtsverfahren hat unser Anwalt argumentiert, dass die Weiterbeschäftigung von Wright und Fisher in der Armee andere Soldaten zu dem Glauben verleitet, die britische Armee ignoriere Mord. Ich fühle mit der Familie des jungen Irakers, der genauso wie Peter zwei kleine Kinder zurücklässt. Ich werde Daoud Mousa, dem Vater des jungen Mannes, schreiben, damit er weiss, was ihn erwartet und um ihm unsere Unterstützung anzubieten."

Im Licht des Mordes an dem jungen Iraker Baha und anderen ist es an der Zeit, der britischen Regierung klarzumachen, dass sie sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen kann - in Nordirland nicht und nicht im Irak.

Quelle: Website der Kampagne "Save the Good Friday Agreement"; www.info-nordirland.de/start_de.htm


Zurück zur Nordirland-Seite

Zurück zur Homepage